Die Farbe des Todes: Ein Veronica-Sloan-Thriller (German Edition)
nach elf hatte Wilders das Bürohaus der Phoenix-Gruppe verlassen. Er hatte fest damit gerechnet, seine Assistentin dann am Nachmittag am Washington Monument zu treffen.
Zeugen und Protokolle sagten übereinstimmend aus, dass Leanne gestern Nachmittag um 13:45 Uhr auf dem Gelände eingetroffen war. Sie hatte recht schnell einen speziellen, nur für Mitarbeiter vorgesehenen Kontrollpunkt passieren können, der kaum genutzt wurde, weil niemand mehr gearbeitet hatte. Als Ziel hatte sie das Weiße Haus angegeben, und der Soldat, der sie überprüft hatte, meinte, sie habe sehr beschäftigt und vielleicht auch ein wenig verärgert gewirkt.
»Ist doch klar«, murmelte Ronnie. »Denn du wolltest ja nicht hier rüberkommen, noch dazu ausgerechnet gestern.«
Warum also hatte Leanne sich hierher begeben?
Dem Wachposten zufolge hatte die junge Frau eine Bemerkung über die Aktivitäten des Tages gemacht, hatte gescherzt, dass die Bösen halt keine Ruhe fänden, und ihm dann zugewinkt, als sie den Kontrollpunkt in Richtung State Street verlassen hatte. Von da an hatte sie niemand mehr gesehen. Um 13:57 Uhr hatte ihre elektronische Zugangskarte ihr den Zutritt zum Weißen Haus ermöglicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich keine Menschenseele mehr hier aufgehalten … war ihr Mörder also mit ihr zusammen hereingekommen? Dann musste es jemand gewesen sein, den sie sehr gut kannte und dem sie vertraute. Oder hatte er die Sicherheitskontrollen irgendwie umgehen können und es geschafft, sich vor sämtlichen wachsamen Blicken zu verbergen? War er irgendein verdammter Superspion, der selbst bei den intensiven Durchsuchungen nicht entdeckt worden war? Das alte Tunnelsystem, das die Anschläge vom 20. Oktober ermöglicht hatte, war zerstört und geschlossen worden, wie Ronnie in Erfahrung gebracht hatte, sonst hätte sie sich gefragt, ob der Mörder vielleicht diese unterirdischen Gänge benutzt hatte.
Dem Chip aus Leannes Arm war zu entnehmen, dass sie etwa um 14:10 Uhr einen elektrischen Schlag von einer Elektroschockpistole erhalten hatte. Was war in den dreizehn Minuten dazwischen geschehen? War Leannes Ziel von Anfang an das zweite Untergeschoss gewesen? Hatte ihr Puls sich deswegen beschleunigt? Hatte sie Angst gehabt?
Oder hatte der Mörder sie oben schon angegriffen – und dann hier heruntergejagt?
Oder aber hatte er sie kampfunfähig gemacht und sie dann in dieses dunkle Loch heruntergeschleift, um sie in aller Ruhe umbringen zu können?
Verdammt, Ronnie wünschte, das Gebäude wäre schon mit dem geplanten Sicherheitssystem ausgestattet gewesen, das überall Kameras vorsah, die jeden Quadratzentimeter Boden überwachten. Aber im Moment gab es nichts anderes als die Hochsicherheitsschlösser, die Agenten und die Wachposten, die gestern zu anderen Aufgaben abgezogen worden waren.
In einer Hinsicht allerdings war Ronnie sich sicher: Leanne Carr war nicht einfach zufällig hergekommen und einem Psychopathen begegnet. Dieses Verbrechen war zu gezielt, Methode und Zeitpunkt waren zu sorgfältig geplant gewesen. Jemand hatte sie hergelockt, wie eine Spinne, die eine dicke Fliege fängt, und anschließend seine Spuren verwischt.
»Aber wer?«, fragte Ronnie, als könne die feuchte muffige Luft, die noch nach Blut und Chemikalien roch, außerdem auch Reste von Leannes Erinnerungsvermögen enthalten.
In den nächsten zwanzig Minuten umkreiste sie den Tatort, bewegte sich von einer Stelle zur nächsten und verließ sich auf ihr ausgezeichnetes Gedächtnis, um sich an die Berichte der Spurensicherung zu erinnern. Sie stellte sich das Geschehen vor, Minute für Minute. Manches merkte sie sich, und sie blieb auch stehen, um zu überlegen, warum der Mörder gerade hier geblieben war, recht nah an der Treppe, statt Leanne ans Ende des Flurs zu bringen, von wo aus man ihre Schreie erst recht nicht hätte hören können.
»Warst du dir so sicher? Warst du so überzeugt, dass niemand sie hören würde?«, wisperte Ronnie, als sie versuchte, sich die Beweggründe des Mörders auszumalen.
Irgendwann wurde ihr bewusst, dass die abgesprochene halbe Stunde, die sie hier unten hatte verbringen wollen, schon fast um war. Da sie nicht wollte, dass Daniels sich besorgt auf die Suche nach ihr machte, warf sie noch einen letzten Blick auf den Tatort und wandte sich dann zur Treppe. Sie nahm weitere Einzelheiten auf, speicherte mit jedem Schritt etwas ab, worüber sie später noch nachdenken wollte. Heute Nacht, wenn sie zu Hause im Bett lag,
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