Die Farbe des Todes: Ein Veronica-Sloan-Thriller (German Edition)
das war nichts im Vergleich zu ihrem eigenen Ärger auf sich selbst.
»Ich habe etwas gehört, das klang wie ein Hilferuf.«
»Da war niemand, der um Hilfe hätte rufen können. Der Kerl hat dich an der Nase rumgeführt.«
»Stimmt«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. Aber das passiert mir nicht noch mal. »Vielleicht wollte er mich damit nach unten locken, weil er dachte, ich wäre allein und er könnte mich erledigen. Als ich dann im Flur gerufen und so getan habe, als wäre Daniels bei mir, musste er seinen Plan ändern. Er konnte ja nicht wissen, ob ich bluffe oder nicht.«
»Wie auch immer – ob Daniels ihn nun verscheucht hat, als er kam, oder ob allein die Erwähnung seines Namens den unbekannten Täter eingeschüchtert hat – dein Partner hat dich gerettet.«
Unbekannter Täter – also hatten sie immer noch keine Ahnung, wer dieses Ungeheuer war.
»Nicht zum ersten Mal.« Ronnie schaute sich im Zimmer um. Wo war Mark eigentlich?
»Er ist gerade rausgegangen, um deinen Chef anzurufen, der hat stündlich nach dir gesehen.« Sykes grinste. »Daniels schien kein großes Interesse daran zu haben, hier mit mir an deinem Bett zu sitzen.«
Ihr Partner würde Sykes hassen, das hatte Ronnie gleich gewusst. Mark war das genaue Gegenteil von Jeremy – hart im Nehmen, nicht mehr taufrisch, ein bisschen grob, direkt und schlagkräftig. Jeremy dagegen war sanft, charmant und intuitiv, und er konnte Menschen so bearbeiten, dass er bekam, was er wollte. Während Daniels durch Wände ging und sich nicht groß um Vorschriften scherte, umging Sykes die Hindernisse einfach und fand Möglichkeiten, die Vorschriften in seinem Sinne abändern zu lassen. Die beiden hätten unterschiedlicher nicht sein können, und jeder für sich trieb Ronnie zum Wahnsinn, allerdings aus ganz verschiedenen Gründen.
»Deine Mutter ist auch hier, unten in der Cafeteria, sie holt sich gerade Kaffee. Sie wird furchtbar enttäuscht sein, dass sie das große Augenaufschlagen verpasst hat.«
»Ach, du Schande«, stöhnte Ronnie, die sich auf dieses Wiedersehen nicht besonders freute.
Nicht, dass sie ihre Mutter nicht geliebt hätte, aber da Ronnie der einzige Mensch war, der Christy Sloan geblieben war, war diese zum Inbegriff einer Glucke geworden. Der entsetzliche Verlust ihres Vaters und ihrer beiden Brüder am 20. Oktober hatte Ronnie so hart gemacht wie vulkanisches Glas, aber ihre Mutter hatte die Katastrophe in das empfindlichste, verletzlichste Geschöpf auf Erden verwandelt. Ronnie brauchte jedes Quäntchen Einfühlungsvermögen, das sie aufbringen konnte, um ihre Mutter nicht mit einem gedankenlosen Wort zu zerschmettern, und dabei einerseits ehrlich zu ihr zu sein, andererseits ihre Gefühle nicht zu verletzen, war immer ein Tanz auf Messers Schneide.
Das einzige, worüber Ronnie nie mit sich reden ließ, war ihr Job, denn ganz egal, wie sehr ihre Mutter auch bettelte und flehte, ihre Arbeit als Polizistin würde sie nicht aufgeben, nicht um alles in der Welt. Nicht einmal für die einzige Angehörige, die ihr geblieben war.
»Sie macht sich anscheinend große Sorgen«, sagte Jeremy in sanfterem Tonfall.
»Ja, ganz bestimmt. Dann muss ich mich wohl auf die nächste Runde in dem Spiel ›Du brichst mir das Herz – wie kannst du mir das bloß antun?‹ vorbereiten.«
»Immerhin besser als das Spiel ›Wie kannst du dich einfach umbringen lassen?‹«, erwiderte er.
Zögernd begann Ronnie zu grinsen, hörte aber gleich wieder auf, weil es wehtat.
»Alles klar?«, fragte Jeremy, der inzwischen am Bettrand stand. Sein Gesicht war voller Sorge, und er betrachtete sie von Kopf bis Fuß, als wolle er jeden blauen Fleck, jeden Kratzer und jeden Schnitt registrieren.
Er sah aus, als sei er hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht, sie in die Arme zu nehmen und an sich zu drücken, und dem Verlangen, den Übeltäter, der ihr das angetan hatte, zu Brei zu schlagen. Ronnie hätte nicht sagen können, welche Reaktion sie mehr gefreut hätte. Schließlich hatten sie sich monatelang nicht gesehen, und die Erkenntnis, dass Sykes so für sie empfand, traf sie bedenklich nah am Herzen.
»Doch, das wird schon«, flüsterte sie. Sie spürte, dass Jeremys Besorgnis sich nicht nur auf ihr physisches Wohlergehen bezog. Er wollte wissen, wie sie damit klarkam, dass vermutlich der gleiche Täter, der vor zwei Tagen Leanne Carr brutal ermordet hatte, nun sie selbst überfallen hatte. War sie für immer gezeichnet, weil sie
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