Die Farbe des Todes: Ein Veronica-Sloan-Thriller (German Edition)
vor Schmerzen kaum rühren, er aber lächelte, gutaussehend und perfekt gekleidet, und spannte sie auf die Folter, indem er weder bestätigte noch verneinte, dass er hier war, um sie aus den Ermittlungen zum Mordfall Leanne Carr herauszudrängen.
Typisch Jeremy Sykes.
»Sieht so aus, als wärst du im Moment nicht in der Verfassung, mich daran zu hindern.«
»Lass mir ein paar Stunden Zeit, dann lege ich dich aufs Kreuz.«
Er lachte leise. »Leere Versprechungen.«
Ronnie hätte sich sonstwohin beißen können, dass sie ihm diesen Eröffnungszug angeboten hatte – und gleichzeitig war ihr klar, dass ein Teil von ihr es absichtlich getan hatte. Es war wie immer: Sie wusste einfach nicht, wie sie auf diesen Mann reagieren sollte.
Sie hatten sich in Texas kennengelernt, während der Ausbildung zum OEP -Ermittler. Sykes war der Mann gewesen, den alle liebten, über den sie sich insgeheim aber auch ärgerten. Nicht, dass er irgendwie abstoßend oder unangenehm gewesen wäre – überhaupt nicht. Aber er war einfach so verdammt perfekt. Er sah unglaublich gut aus – er hätte als Model arbeiten können, und das wusste er auch. Er flirtete gern – mit seinem Charme kriegte er sie alle rum. Er war kultiviert und hatte Geschmack – aber ganz unaufdringlich. Reich – seine Familie besaß ein großes, internationales Unternehmen. Intelligent – er hatte sich seinen Abschluss in Harvard nicht über Beziehungen verschafft, sondern selbst erarbeitet. Und obendrein war er ein guter Ermittler – er war FBI -Agent und hatte bereits die höchste Auszeichnung für Tapferkeit erhalten, die das FBI vergab. Außerdem war er höflich, geistreich und freundlich. Also einfach widerlich perfekt.
In der ersten Woche ihrer Ausbildung hatte Ronnie ihm den Spitznamen Ätzbrocken verpasst. Nicht nur aus all diesen Gründen, sondern auch, weil er sie einfach komplett durcheinander brachte. Sie war in einem Haushalt mit zwei älteren Brüdern und einem überfürsorglichen, in sie vernarrten Vater aufgewachsen und hatte folglich seit frühester Kindheit Umgang mit dem anderen Geschlecht gehabt. Und sie hatte immer gewusst, wo sie die Männer hinstecken musste, hatte Schubladen für alle Beziehungen in ihrem Leben gehabt. Familienmitglied. Täter. Opfer. Freund. Partner. Chef. Liebhaber.
Sykes hatte da nicht reingepasst. Nirgends.
Nach der Ausbildung war sie verwirrt und neugierig gewesen. Die anderen Teilnehmer hatten die Spannung zwischen ihnen größtenteils bemerkt und kommentiert. Wenn Sykes bei einem Examen achtundneunzig Prozent erreichte, dann riss sie sich ein Bein aus, um neunundneunzig zu erhalten. Und wenn er während der Simulationen eine Reihe von OEP -Bildern studierte und in zwei Minuten und zehn Sekunden eine benötigte Information fand, musste Ronnie das einfach in zwei Minuten und fünf Sekunden schaffen. Sie hatten am Schießstand konkurriert, Schuss für Schuss, und alle anderen Ausbildungsteilnehmer weit hinter sich gelassen, doch nie hatte er sie oder sie ihn besiegen können.
Ronnie konnte sich nur an eine einzige Situation erinnern, in der sie nicht diskutiert, sich keine Wortgefechte geliefert und nicht miteinander gewetteifert hatten. Das war gegen Ende ihres Trainings gewesen, nach einem aufreibenden Tag, an dem sie die grässlichen Bilder einer Testperson gesehen hatten, die zum elektrischen Stuhl gebracht wurde. Der Mann war ein zum Tode verurteilter Mörder gewesen, doch Ronnie hatte eine bisher verborgene Quelle des Mitgefühls in sich entdeckt, als sie seine letzten Stunden miterlebt hatte.
Die Aufnahmen der OEP -Kamera hatten es ihr ermöglicht, beinahe in seine Haut zu schlüpfen. Sie hatte alles durch seine Augen gesehen, so, wie sie es gelernt hatte. Mit eigenen Augen hatte sie in einer zerfledderten Bibel gelesen und voller Angst und Sorge den dreiundzwanzigsten Psalm studiert. Sie hatte sich absurd viel Zeit gelassen, eine Henkersmahlzeit mit Steak samt Pekannusstorte und Schlagsahne zum Nachtisch zu sich zu nehmen, und auf dem Weg von der Zelle zur Todeskammer waren Ronnies eigene Füße mit schweren Schritten über den zerkratzten Linoleumboden gestapft.
Sie selbst hatte vor Tränen kaum noch sehen können, als die Wachposten die Gurte festzurrten, hatte erlebt, wie ihr die Sicht ganz genommen wurde, als sie ihr die schwarze Kapuze überzogen. Und das letzte Bild, das sie auf dieser Erde wahrgenommen hatte, war eine rote Explosion gewesen, als die Kapillaren in ihren Augen platzten.
Dieses
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