Die Farbe des Todes: Ein Veronica-Sloan-Thriller (German Edition)
jeder Neuling mit einer Spur von Menschlichkeit im Leib musste bei diesem Anblick etwas empfinden.
Eine derart grausige Bluttat hatte sie, außer bei terroristischen Anschlägen, noch nie erlebt. Und es war ein großer Unterschied, ob man die zerfetzten Eingeweide eines Selbstmordattentäters auf der Kühlerhaube eines Hyundai verstreut fand oder ob man das Resultat einer wohlüberlegten Folterung im Keller des Weißen Hauses entdeckte.
Wer diese Frau auch gewesen sein mochte, Ronnie hoffte nur, dass das kranke Schwein sie getötet hatte, bevor er mit dem Messer richtig Ernst gemacht hat. Doch im tiefsten Innern befürchtete sie, dass das Opfer nicht schnell gestorben war. Für diese Verstümmelungen musste der Mörder viel Zeit gebraucht haben, und folglich hatte er lange im Voraus geplant und gewusst, dass er ungestört sein würde.
Und daher hatte er sich nicht beeilt.
Special Agent Bailey räusperte sich und stieß hervor: »Das Opfer hieß Leanne Carr.«
»Haben Sie die Frau gekannt?«, fragte Ronnie. Ihr war eingefallen, dass Bailey erwähnt hatte, sein Einsatzort sei hier auf dieser Baustelle.
Sein Adamsapfel hüpfte, als er schluckte. »Ein bisschen. Sie schien recht nett zu sein.«
Nettigkeit war zur Abwehr von mörderischer Wut leider wenig effektiv. Es war schön und gut, wenn die Leute einen mochten, aber Ronnie hätte dem Prädikat »nett« jederzeit eine Glock und einen schwarzen Gürtel vorgezogen.
»Manchmal muss man sich fragen, ob es überhaupt ein Leben im Jenseits gibt. Wir sind doch hier schon in der Hölle«, murmelte Bailey mit stockender Stimme.
Ronnie nickte. »Sie hat das bestimmt so empfunden.«
»Ich will gar nicht daran denken, was sie durchgemacht haben muss«, sagte Bailey. Sein Tonfall und seine Körperhaltung bestätigten, dass er kurz davor war, die Nerven zu verlieren.
Ronnie konnte nicht anders, sie hatte Mitgefühl mit ihm. Dieser Grünschnabel hatte offenbar noch nicht genug grausig zugerichtete Leichen gesehen und war noch nicht abgehärtet. Das hier war eine Feuerprobe für ihn. Die erfahrenen Ermittler, wie die anderen Beamten vom Secret Service, die sie draußen begrüßt und zu Bailey hinuntergebracht hatten, fanden den Mord zwar genauso entsetzlich, aber sie verstanden es besser, ihre instinktiven Reaktionen zu verbergen. Sie konnten ihre Emotionen in sich vergraben. Zwar nur für kurze Zeit, aber lange genug, um ihre Arbeit zu tun.
Irgendwann jedoch mussten selbst die abgebrühtesten Ermittler diese Gefühle aus ihren dunklen Winkeln hervorholen und ans Licht bringen. Es war unerlässlich, sie loszulassen, bevor die aufgestauten Erinnerungen einen in den Wahnsinn trieben.
Das ging allen Polizisten so, Ronnie eingeschlossen. Heute am späten Abend, wenn sie allein war, würde sie um diese arme Frau trauern und sich aufrichtigen Kummer erlauben. Außerdem Wut. Und Menschlichkeit. Mark Daniels würde sich wahrscheinlich betrinken, um die Vorstellung von ihren letzten Momenten aus seinem Hirn zu schwemmen. Bis dahin jedoch mussten sie ihre Arbeit erledigen, mussten sich vom Leben wieder einen Tag lang den scheußlichsten grünen Schleim ins Gesicht spucken lassen.
»Ich habe so was noch nie gesehen«, gab Bailey zu. Seine Stimme war fest, aber seine Lider flatterten mehrmals, als er von der Ecke des Raumes aus, wo sie alle standen, den Tatort betrachtete. »Außer vielleicht im Film, aber da denkt man dann, dass so etwas Grauenvolles in Wirklichkeit nicht passiert.«
Ronnies Respekt vor Bailey stieg um einen Punkt. Immerhin riss er sich zusammen, obwohl ihm das Verbrechen unter die Haut ging und obwohl er das Opfer gekannt hatte, wenn auch nur flüchtig.
Sie beschloss, ihn ein bisschen zu schonen, weil sie anfangs so hart zu ihm gewesen war. Mit einem Blick auf die Uhr sagte sie: »Hören Sie, ich will Sie nicht nerven, aber würden Sie mir den Ausdruck jetzt gleich holen? Wir werden bei diesem Fall ganz schön unter Druck stehen, und ich möchte gern so schnell wie möglich wissen, womit ich es zu tun habe.«
Baileys schwaches Stirnrunzeln zeigte Ronnie, dass er nicht sicher war, wie er ihre Aufforderung deuten sollte. Eigentlich war sie für den Fall gar nicht zuständig – noch nicht. Daher lächelte sie ihn an und senkte die Stimme, als würde sie ihn um einen Gefallen bitten, statt ihn wegzuschicken. »Ehrlich gesagt, ich kenne mich in diesem Gebäude überhaupt nicht aus. Die haben uns direkt hergebracht und hier bei Ihnen abgesetzt. Ich möchte einfach
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