Die Farbe Des Zaubers
Freistatt, das keiner seiner Bürger erkannt hätte — ein Labyrinth von Palästen, schmucken Stadthäusern und Schenken am Schlangenweg, überall Licht, Zufriedenheit, Wohlhabenheit.
»So könnte die wirkliche Welt sein«, sagte Mriga, als Ischade sie am Fluß entlangführte. »Eines Tages wird es so sein ... falls auch vielleicht erst, wenn die Zeit stillsteht. Aber sie wird so, nicht wahr?« fragte sie Ischade, und ihre Augen glänzten im beginnenden Morgen.
»Da ich keine Göttin bin, möchte ich lieber nichts sagen.« Ischade blieb vor einem kleinen Tor stehen und öffnete es. »Hier ist die Barriere. Was ist - wird sich wieder einstellen. Wappnet euch für den Unterschied.«
»Aber dies ist , was ist«, entgegnete Mriga, als zunächst Siveni, dann Harran durch das Tor traten und der silberne Tag an ihnen vorbei in Ischades unkrautüberwucherten Garten flutete. Weiße Blüten öffneten sich an jedem Baum; die schwüle Luft am Fluß wurde warm und süß, als hätten sich Frühling und Sommer in diesem Garten eingenistet. Die schwarzen Vögel auf den Bäumen blickten hinunter, einer öffnete den Schnabel und fing mit einer Stimme, so tief und bittersüß wie Nacht und Liebe, zu singen an. Der kahle Rosenstrauch schüttelte sich, sproß Blätter, dann Rosen in jeder nur vorstellbaren Farbe — leuchtend weiß, rot wie die Abendliebe, und unvergleichliches Blau, silber und rosa und grün und violett, ja sogar schwarz.
»Das ist!« beharrte Mriga, als Ischade am Gartentor stehenblieb und mit kühlem Staunen hindurchblickte. »Die obere Welt muß nicht so sein, wie sie ist - nicht für immer. Dasselbe gilt für Euch. Ihr könntet mehr sein. Ihr könntet sein, was Ihr jetzt seid, und noch mehr ...«
Ischade blickte stumm auf das, was das Licht, der silberne Morgen, die unwiderstehliche Freude in der Luft aus ihr gemacht hatten. Lange schaute sie an sich hinunter, hob die Hände, starrte in die Handteller, als wären sie ein Spiegel. Schließlich senkte sie sie, ruhig wie immer. »Ich ziehe meine Weise vor.«
Mriga blickte sie einen langen Moment an. »Ja. Jedenfalls vielen Dank.«
»Glaubt mir, Ihr werdet gut für das bezahlen, was ich für Harran getan habe.«
Mriga schüttelte den Kopf. »Dort unten — Ihr wußtet alles, was geschehen würde, nicht wahr? Aber Ihr habt versucht, uns Unheil zu ersparen, uns und Freistatt. Natürlich, ohne daß es so aussah und es Eurem Ruf hätte schaden können.«
»Ich hätte nicht gern eine Göttin verloren, die in dieser Gegend in naher Zukunft so herrliche Veränderungen vor hat.« Ischades Stimme klang weich und gefährlich.
Mriga lächelte sie an. »Ihr seid nicht ganz so, wie Ihr wollt, daß andere Euch sehen, Lady Ischade. Aber Euer Ruf ist bei mir sicher.«
Die Nekromantin blickte sie an und lächelte spöttisch. »Der Tag ist noch nicht gekommen, an dem es mir etwas ausmacht, was irgend jemand von mir denkt oder nicht denkt, einschließlich der Götter.«
»Ich verstehe. Und wer sonst, als die Götter, erweckt die Toten? Gehen wir hinein.«
Ischade nickte und hielt das Tor auf. Mriga trat hindurch, und nun, da die echte Sonne aufging, schwand der Einfluß der Unterwelt, und der Tag setzte sich durch: Ein rußiger, fahler Morgen dämmerte über Freistatt, der nach Rauch mit einem Beigeschmack von Blut roch; ein Morgen mit Geistern, trostlos und bitterkalt, wie es sich für den ersten Wintertag geziemte. Hinter Ischades Rücken rauschte und stank der Schimmelfohlenfluß, und stellenweise bildeten sich bereits Eisschichten, doch die in der Luft hängende Freude weigerte sich, völlig zu verschwinden. Ischade schloß die Gartentür hinter sich und blickte zu den Eingangsstufen des Hauses. Haught und Stilcho standen dort, beide mit blanken Schwertern in der Hand. Ischade winkte ihnen zu, sich ins Haus zu begeben, dann drehte sie sich um und betrachtete den Rosenstrauch.
Stilcho ging folgsam ins Haus. Haught stand noch auf der Schwelle. Ischade achtete nicht auf ihn, falls es ihr überhaupt bewußt war, daß er dort war. Schließlich streckte sie die Hand nach dem Strauch aus. Und falls Haught auffiel, daß Ischade einen langen, nachdenklichen Blick auf die weißeste Rose warf, ehe sie die schwarze pflückte, erwähnte er es ihr gegenüber nicht, weder jetzt noch jemals.
Originaltitel. Down by the Riverside Copyright © 1985 by Diane Duane
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(1) Armeen der Nacht, von C. J. Cherryh in Geschichten aus der Diebeswelt: Armeen der Nacht, Bastei-Lübbe 20140
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