Die Farben der Freundschaft
ihn.
»Wie kommt es, dass du so klug bist?«, fragte ich.
Julian schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht, ich weiß nur, dass Leiden die Hoffnungen unserer Jugend begräbt und unsere Sinne schärft.« Julian sah abwechselnd auf mich und auf das entstehende Bild.
»Du bist ein wunderschönes Motiv, Ruby.« Sein Blick wurde mild, während er die Zeichenkohle mit leichter Hand über die Leinwand gleiten ließ.
»Julian, ich … ich möchte dir etwas sagen.« Ich blätterte in den Seiten des Buches auf meinem Schoß.
»Ich weiß.«
»Das weißt du?«
»Ja, es geht um einen Jungen.«
»Woher weißt du das?«
»Es steht in deinen Augen, Ruby. Sie sind die Fenster zu deinem Herzen. Was in den Herzen der Menschen vorgeht, lässt sich mit einem Blick in ihre Augen erkennen, verstehst du?«
»Ich denke schon.«
»Und in deinen Fenstern hängen Samtgardinen.«
»So auffällig?«
»Für mich ja.«
»Was ist mit deinen Fenstern?«
»Sie sind mit knorrigen Ästen verrammelt. Kein Durchblick in mein Herz, erst wieder nach der Ausstellung.«
»Sie wird wunderbar werden!«
»Davor habe ich die meiste Angst«, sagte Julian ruhig. »Erzähl mir von dem Jungen, der dieses Funkeln in deine Augen gebracht hat.«
»Er ist sehr nett und sehr besonders. Ich glaube, er mag mich auch leiden. Vielleicht.« Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden.
Julian legte die Zeichenkohle weg. »Du kannst dich jetzt bewegen.«
Ich stand auf, drückte den Rücken durch und streckte die Arme über den Kopf.
»Ist er in deiner Klasse?«
»Nein, er geht auf eine andere Schule. Steunmekaar.« Ich gähnte herzhaft und schüttelte die Arme aus.
»Ein Afrikaander.« Langsam und stirnrunzelnd sprach Julian das Wort aus. »Einer aus dem Lager unserer Unterdrücker.«
»Julian! So einer ist er nicht! Mutter und Vater hatten auch erst ein Problem damit, dass ich eine Afrikaanderin als Freundin hatte, aber er ist nicht so …«
Julian vergrub die Hände in den Taschen und starrte auf seine Füße. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich brauche dich hier nicht mehr, Ruby. Ich male das Bild aus dem Gedächtnis fertig.«
»Julian! Sei doch nicht so! Er ist kein schlechter Mensch«, flehte ich.
»Ruby! Bitte geh. Ich muss allein sein.« Julians Stimme klang schroff. Er sah mir nicht in die Augen, sondern hielt den Blick gesenkt und wippte mit den Füßen in seinen ausgelatschten Mokassins.
Ich riss mir den Panamahut vom Kopf, so heftig, dass mir das Gummiband ans Kinn schnalzte. In meinen Augen brannten Tränen, als ich aus dem Atelier stürmte – eine Möwe im Flug, die es für gut und richtig gehalten hatte, anders zu sein. Ich hatte immer gedacht, wenn ich meine Flügel weit ausbreitete, täte ich das, was sie von mir erwarteten. Mutter, Vater und sogar Julian. Aber ihre wohlgeordnete Weltsicht funktionierte nach Regeln. Und diese Regeln gaben nach außen hin vor, andere stets zu akzeptieren.Diese Heuchler! Ihre »vorurteilslose« Haltung war in Wirklichkeit nur gezielte Akzeptanz von Ausgewählten. Und weil ich mich bemüht hatte, nach ihrer Überzeugung zu leben, war ich jetzt in der Schule so isoliert. Helle Wut pochte in mir, während ich die Treppe hinauf in mein Zimmer rannte, um Loretta anzurufen. Die einzige wahre Freundin, die ich hatte.
Johann war am Apparat. Er erkannte meine Stimme sofort. Sicher riefen nicht allzu viele englische meisies bei ihnen an.
»Ruby«, sagte er, und seine Stimme klang angenehm überrascht.
Als ich ihn meinen Namen aussprechen hörte, blieb mir fast die Luft weg. »Ähm, ja, Johann. Äh, ich wollte … ist deine Schwester zu Hause?«
»Nein. Noch nicht, aber ich werde ihr sagen, dass du angerufen hast.«
»Okay, danke«, sagte ich und wollte auflegen. Ich musste erst mal zur Ruhe kommen. Julians Verbitterung und jetzt Johann am anderen Ende der Leitung, das war zu viel. »Tschüss«, quetschte ich hervor.
»Warte!«, sagte er hastig. »Leg noch nicht auf, Ruby. Ich würde dich gern wiedersehen.«
»Ja.«
»Bestimmt bist du bei den Jungs an deiner Schule sehr beliebt. So hübsch wie du bist …«
Ich schnappte nach Luft.
»Aber darf ich dich vielleicht am Samstagabend in ein Autokino einladen?«
Ein Kaleidoskop leuchtender Farben schlug über mir zusammen, und ich musste mich am Bettpfosten festhalten. Rosa. Violett. Smaragdgrün.
»Samstag?«, flüsterte ich.
»Ja, kommenden Samstag, es sei denn, du möchtest nicht…«
»Nein! Doch. Ich meine, doch, natürlich will ich!« Ich
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