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Die Farben der Freundschaft

Titel: Die Farben der Freundschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linzi Glass
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beschlossen, er brauche noch ein Porträt für die Ausstellung, etwas, das ganz im Gegensatz zu seinen anderen Arbeiten stand. Offenbar hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er sich die ganze Woche nicht um mich gekümmert hatte, und so bat er mich – als Wiedergutmachung sozusagen –, das Modell für sein letztes Bild zu sein, jenes Bildes, das die Auswahl vervollständigen würde. Es sollte seine Überzeugung ausdrücken, die Vision von Veränderung, auch wenn er glaubte, dass sein Volk noch lange darauf würde warten müssen.
    »Du zappelst zu viel herum, Ruby.«
    »Warum muss ich unbedingt die Schuluniform anhaben?«, beklagte ich mich.
    Julian hatte mich gebeten, meine Winter-Schuluniform anzuziehen, blauer Trägerrock, weiße Bluse und Schulkrawatte, dazu den blauen Panamahut, den keines von uns Mädchen je aufsetzte. Ich musste mich auf einen Stuhl mit gerader Rückenlehne setzen, ein Buch in der Hand. Ich sollte so tun, als sei ich tief in die Lektüre versunken. Doch ich konnte die Bedeutung dieser Szene nicht erkennen. Ein weißes Schulmädchen liest in einem Buch, das schien mir kein besonders beachtenswertes Motiv zu sein.
    »Was ist so interessant daran, wenn ich lese? Ich versteh’s nicht.«
    »Schau auf den Einband, Ruby.« Julian hatte seine Staffelei in einiger Entfernung von mir aufgestellt und war schon am Skizzieren.
    Ich klappte das Buch zu und sah mir das Cover an. Julian hatte einen falschen Einband um das Buch gelegt. Offenbar hatte er viel Sorgfalt darauf verwandt, ihn zu gestalten. Den Buchtitel hatte er in einer Sprache geschrieben, die ich nicht kannte.
    »In-kul-uleku!« , buchstabierte ich halblaut.
    »Inkululeku!« Julian sprach mir das Wort vor. »Das heißt ›Freiheit‹ auf Xhosa«, sagte er, ohne aufzusehen. »Eines Tages sollen weiße Kinder in unseren Sprachen lesen lernen, so wie wir ihre Sprachen lernen müssen.«
    »Toll!«, sagte ich.
    »Hörst du also jetzt auf zu meckern?« Julian sah mich schelmisch grinsend an.
    Ich saß reglos auf dem Stuhl, hielt das Buch in der Hand und rührte mich mindestens zwanzig Minuten nicht. Ich hätte Julian so gern von Johann erzählt, aber ich wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Er brauchte absolute Ruhe und Konzentration, wenn er eine neue Arbeit anfing. War dann die Bleistiftskizze zu Papier gebracht und waren die Pinsel bereitgelegt, würde ich ungezwungen reden können, vorerst aber musste ich mich in Geduld üben, und so klappte ich das Buch auf.
     
    Seit sich Julian bei uns einquartiert hatte, verschlang er die Bücher in unseren Regalen. Sie lagen stapelweise auf dem Nachttisch in seinem Zimmer. Er musste eines von diesem stetig wachsenden Berg genommen und mit diesem selbst entworfenen Einband versehen haben. Ich schlug eine beliebige Seite auf.
    »Lies vor«, sagte Julian.
    »Aber du willst doch immer Ruhe …«
    »Diesmal mache ich eine Ausnahme. Es geht in diesem Buch darum, wie man inneren Frieden und ein höheres Lebensziel findet.« Er sah auf, und für einen Moment trafen sich unsere Blicke.
    »Soll ich einfach irgendwo anfangen?«, fragte ich.
    »Ja. Das Buch ist von vorn bis hinten gut. Es handelt von einer Möwe.«
    Ich fing an zu lesen. »Die meisten Möwen begnügen sich mit den einfachsten Grundbegriffen des Fliegens, sind zufrieden, von der Küste zum Futter und zurück zu kommen. Ihnen geht es nicht um die Kunst des Fliegens, sondern um das Futter. Jonathan aber war das Fressen unwichtig, er wollte fliegen, liebte es mehr als alles andere auf der Welt …«
    »Ein großer Denker, dieser Vogel.« Julian lachte leise in sich hinein. »Lies weiter …«
    »Wozu das, Jon? Warum in aller Welt?«, fragte seine Mutter. »Ist es denn wirklich so schwer, wie alle anderen zu sein? Warum überlässt du den Tiefflug nicht den Pelikanen oder dem Albatros? Warum frisst du nicht wie die anderen? Du bist ja nur noch Federn und Knochen, wie siehst du bloß aus?«
    »Das ist mir ganz einerlei, Mama. Ich muss herausfinden, was ich in der Luft kann und was nicht, das ist alles. Ich muss es einfach wissen.«
    »Wissen.« Julians Finger glitten leicht über die Leinwand. »Darum geht es im Leben, Ruby. Um die Sehnsucht, zu verstehen und etwas zu erreichen, das jenseits unserer Grenzen liegt.«
    »In einem Land, in dem es zahllose Grenzen gibt«, seufzte ich.
    »Ach, wir müssen eben einfach wie Jonathan lernen, über die Grenzen hinwegzufliegen.«
    Ich sah Julian an und empfand plötzlich tiefe Bewunderung für

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