Die Farben der Magie
hoher Stimme, »und dann natürlich die Mahlzeiten. äh. Verstehst du? Essen. Du hast doch sicher Hunger, wie?« Er vollführte entsprechende Gesten.
»Ässen?« wiederholte der kleine Mann.
»Ja.« Breitmann begann zu schwitzen. »An deiner Stelle würde ich in dem kleinen Buch nachsehen.«
Der Fremde öffnete es und strich mit dem Zeigefinger über eine Seite.
Breitmann las nicht sehr häufig, weil es ihm zuviel Mühe bereitete, aber jetzt beugte er sich vor und versuchte, die Schriftzeichen in dem Buch zu entziffern. Es gelang ihm nicht.
»Ähssen«, sagte der Reisende. »Ja. Schnitzel, Gulasch, Kotelett, Eintopf, Ragout, Frikassee, Hackfleisch, Auflauf, Knödel, Pudding, Fruchteis, Haferschleim, Würstchen, ich möchte kein Würstchen, Bohnen, ohne Bohnen, Beilagen, Grütze, Marmelade. Geflügelinnereien.« Er hob den Kopf und strahlte.
»Das alles?« fragte Breitmann unsicher.
»Es ist nur seine Ausdrucksweise«, sagte Hugo. »So spricht er eben. Frag mich jetzt bloß nicht nach dem Grund.«
Die Blicke aller Augen im Zimmer waren auf den Fremden gerichtet – bis auf zwei, die dem Zauberer Rincewind gehörten. Er saß in der dunkelsten Ecke und nippte an einem kleinen, halb gefüllten Krug Bier.
Seine Aufmerksamkeit galt der Truhe.
Beobachten Sie Rincewind.
Sehen Sie sich ihn genau an: dürr wie die meisten Zauberer, gekleidet in einen dunkelroten, mit stumpfen Pailletten besetzten Umhang, die abgewetzten Stickmuster mystischen Symbolen nachgebildet. Auf den ersten Blick betrachtet, wirkte er wie ein einfacher magischer Lehrling, der seinen Meister aus Trotz, Langweile und einer hartnäckigen Neigung zur Heterosexualität verlassen hatte. Aber am Hals trug er eine Kette mit dem bronzenen Oktagon, das ihn als Absolventen der Unsichtbaren Universität auswies – jenes Lehrinstituts für Magie, dessen in Raum und Zeit transzendenter Campus nie genau Hier oder Dort ist. Wer die Ausbildung beendete, nahm zumindest den akademischen Grad eines Magus ein, aber Rincewind hatte die Universität nach einem unglücklichen Zwischenfall mit nur einem Zauberspruch verlassen. Derzeit verdiente er sich seinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht, indem er sein Sprachtalent nutzte. Aus prinzipiellen Gründen hielt er nichts von geregelter oder gar anstrengender Arbeit, aber er zeichnete sich durch eine hintergründige Schläue aus, die viele seiner Bekannten an ein gerissenes Nagetier erinnerte. Außerdem: Er erkannte intelligentes Birnbaumholz auf den ersten Blick. Jetzt sah er es und konnte es kaum fassen.
Wenn sich ein Erzmagus große Mühe gab und viel Geduld aufbrachte, so gelang es ihm vielleicht, irgendwann einen kleinen Stab aus dem Holz des intelligenten Birnbaums zu bekommen. Solche Pflanzen gediehen nur an den Orten alter Magie. In allen Städten am Runden Meer gab es wahrscheinlich nicht mehr als zwei solche Zauberstäbe. Eine große Truhe aus diesem Material… Rincewind begann zu rechnen, aber schon nach wenigen Sekunden bekamen die Zahlen zu viele Stellen. Eins stand fest: Selbst wenn die Kiste bis zum Rand mit Sternopalen, Goldbarren und anderen Schätzen gefüllt war – ihr Wert übertraf den Inhalt um ein Vielfaches. In der Schläfe des Zauberers pulsierte eine Ader.
Er stand auf und schlenderte zu dem Trio hinüber.
»Kann ich irgendwie behilflich sein?« fragte er.
»Verschwinde, Rincewind!« knurrte Breitmann.
»Ich dachte nur, es sei vielleicht angebracht, in seiner Muttersprache mit ihm zu reden«, erwiderte der Zauberer sanft.
»Er kommt auch so ganz gut zurecht«, sagte der Wirt, wich jedoch einige Schritte zurück.
Rincewind sah den Fremden an, lächelte höflich und formulierte einige Worte auf Chimärianisch. Er war stolz darauf, diese Sprache fließend zu beherrschen, doch der Vieräugige starrte ihn nur groß an.
»Das klappt nicht«, meinte Hugo klug. »Er braucht das Buch. Es teilt ihm mit, was er sagen soll. Magie.«
Rincewind versuchte es mit Hochborograwianisch, Wangelmescht, Sumtri und sogar Schwarz-Oroogu, einer Sprache ohne Substantive und mit nur einem Adjektiv, das obszön klingt. Jedesmal bestand die Reaktion aus freundlichem Unverständnis. Verzweifelt spielte der Zauberer seinen letzten linguistischen Trumpf aus: primitives Trob. Daraufhin zeigte sich ein erfreutes Grinsen im Gesicht des Fremden.
»Endlich!« entfuhr es ihm. »Das ist wirklich erstaunlich, werter Herr!« (Die wörtliche Übersetzung des letzten Trob-Wortes lautete: ›eine Sache, die nur einmal während
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