Die Farben der Sehnsucht
tun hatte, möglichst von ihr fernzuhalten. Margaret war genug damit beschäftigt, sich um Julia zu kümmern – und um sich selbst.
Aus dem Grund nahm Margaret sich auch häufiger frei. Ich ließ sie, so oft sie es für nötig hielt, gehen, obwohl es nicht leicht für mich war. An einigen Tagen konnte ich nicht einmal eine Mittagspause machen. Ein Kunde nach dem anderen wollte bedient werden – und das bis ans Ende des Tages. Zum Glück liebte ich meine Arbeit! Und ich liebe sie noch immer.
Dieser Mittwochmorgen Anfang Mai war ungewöhnlich. Margaret verhielt sich sehr schweigsam. Meine Schwester tat ihre Meinung sonst immer schnell kund – ob man sie nun hören wollte oder nicht. Doch an diesem Tag kam sie zur Arbeit und sagte kaum ein Wort.
Unzählige Fragen lagen mir auf der Zunge. Ich wusste, dass Julia sich einer Selbsthilfegruppe für Opfer von Verbrechen angeschlossen hatte – Hailey hatte es mir erzählt.
Zuerst war ich wütend darüber gewesen, dass meine Schwester mir diese Information nicht selbst mitgeteilt hatte. Aber so lautstark sie sich auch über andere Menschen auslassen kann, so verschlossen wird sie, wenn es um ihr eigenes Leben und ihre Angelegenheiten geht. Ich nahm an, dass sie mir irgendwann von Julia und der Selbsthilfegruppe erzählen würde – wenigstens hoffte ich es.
Als hätte sie meine Gedanken erraten, kam Margaret nun zu mir.
Ich war gerade dabei, Inventur zu machen.
Die besondere Wolle, die ich gerade aufnahm, war eine meiner Lieblingssorten. Es ließ sich ganz hervorragend Filz daraus machen. Die Wolle war immer schnell vergriffen. Entscheidend ist es, sich bei Wolle für die richtigen Farben zu entscheiden, und da es unzählige Varianten gibt, aus denen man wählen kann, habe ich viel herumexperimentiert und ganz neue, ungewöhnliche Farbnuancen eingebracht und angeboten.
„Ich muss mir heute Nachmittag freinehmen“, verkündete Margaret ohne Umschweife. „Das ist doch kein Problem, oder?“
„Heute findet der Schal-Kurs statt“, erinnerte ich sie. Meine Schwester sollte eigentlich im Laden sein, um sich gegebenenfalls um die Kunden zu kümmern – ich zählte auf sie und vertraute auf ihre Hilfe.
„Ja, ich weiß. Aber es ist sehr wichtig.“ Die Abwehr in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Ich unterdrückte die Frage, wie lange meine Schwester so weiterzumachen gedachte und wie lange es noch nötig war, dass sie so häufig freinahm. „Ich werde es schon schaffen“, sagte ich, obwohl ich die Aussicht, den Kurs zu führen und mich gleichzeitig um die Kunden zu kümmern, nicht eben verlockend fand.
Dass Margaret sich nicht näher erklärte, beunruhigte mich. Irgendwann einmal hatte sie darüber gesprochen, einen Privatdetektiv zu beauftragen. Doch wenn sie es tatsächlich gemacht hatte, wusste ich nichts davon. Ich hoffte – vertraute darauf –, dass Matt ihr diesen Plan ausgeredet hatte.
Nach einer Weile beantwortete Margaret meine unausgesprochene Frage. „Julia muss um drei Uhr ins Polizeipräsidium, um den Angeklagten bei einer Gegenüberstellung zu identifizieren“, sagte sie.
„Die Polizei hat ihn gefasst?“ Glauben Sie bloß nicht, dass Margaret mir das von sich aus erzählt hätte!
„Detective Johnson glaubt, der Kerl sei es gewesen“, murmelte sie.
Meine Sorge galt meiner Nichte und ihrer Reaktion da rauf, dem Angreifer wieder gegenüberstehen zu müssen. „Wie geht sie damit um?“
Margaret ließ sich ihre Gefühle nicht leicht anmerken, aber ich konnte sehen, dass sie nervös war. „Matt und ich haben heute Morgen mit ihr gesprochen. Wir haben ihr gesagt, dass der Verdächtig e …“, sie spuckte das Wort beinahe aus, „… ihr nicht mehr gefährlich werden kann. Ich nehme an, er ist schon hinter Gittern.“
Dass er zu einer Gegenüberstellung antreten musste, bedeutete noch lange nicht, dass er sich auch in Gewahrsam befand – doch das erzählte ich meiner Schwester nicht. Natürlich kannte ich alles, was ich über die Polizeiarbeit wusste, nur aus dem Fernsehen … Mir war klar, dass viel davon abhing, ob Julia ihn zweifelsfrei identifizieren konnte. Dann – und nur dann – würde der Verdächtige auch tatsächlich angeklagt werden.
„Julia ist inzwischen so stark wie schon lange nicht mehr“, fuhr Margaret fort. „Matt und ich werden sie begleiten.“
„Kann ich irgendetwas tun?“, fragte ich und war dankbar dafür, dass meine Schwester und mein Schwager bei meiner Nichte sein würden. Ich wollte Margaret durch
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