Die Farben der Sehnsucht
Ihre Schulnoten haben sich verschlechtert, und sie verlässt das Haus nicht mehr, außer um zur Schule zu gehen. An manchen Tagen schafft sie nicht einmal das. Und“, sagte sie und seufzte, „sie weigert sich, zu einem Psychologen zu gehen.“
Ich wusste ja, dass Julia keine psychologische Hilfe annehmen wollte. Doch der Rest war mir neu – und ich fühlte mich grässlich. Margaret hatte mir nur über ihren Ärger mit der Polizei berichtet. Meine Schwester schien zu glauben, dass sich alles ändern würde, wenn der Täter erst einmal hinter Gittern saß. Dass sich die Situation dann augenblicklich wieder normalisieren und dass es Julia schlagartig besser gehen würde. Ich hingegen glaubte nicht, dass es so einfach war.
„Außerdem“, fügte Margaret stockend hinzu, „spricht Julia nicht über den Überfall. Niemand darf den Vorfall erwähnen. Wenn wir es doch tun, steht sie auf und verlässt das Zimmer. Ich wünschte, Matt und ich hätten ihr nicht diesen iPod gekauft, denn sie benutzt ihn nur, um uns aus ihrer Welt auszuschließen.“
„Der Schal wird Julia Schutz bieten“, sagte ich leise. „Wenn sie sich ihn um die Schultern legt, wird sie deine Liebe und deine Gebete für sie spüren.“ Das hoffte ich für meine Nichte.
„Ich möchte nur, dass sie das alles hinter sich lässt, als wäre es niemals geschehen“, sagte Margaret.
Das wünschten wir uns alle. Doch ich bezweifelte, dass das möglich war.
„Nach Dereks Tod hätte ich mir auch gewünscht, einen Gebetsschal zu haben“, murmelte Colette, deren gesamte Aufmerksamkeit ihrer Arbeit und dem Muster galt, das auf dem Tisch vor ihr lag. Sie hielt den Kopf gesenkt, so dass es nicht ganz einfach war, ihre Worte zu verstehen. „Wir führten eine gute Ehe. Und dann … starb er.“
Niemand wusste etwas darauf zu erwidern, und ein unangenehmes Schweigen senkte sich über die Gruppe.
„Oh Colette“, sagte Alix. „Es tut mir leid, dass du eine so schlimme Zeit durchleiden musstest.“ Sie erschauderte. „Ich wüsste nicht, was ich täte, wenn Jordan etwas passieren würde“, fuhr sie fort.
Colette nickte. „Ich hoffe, dass ihr beide sehr glücklich werdet.“
Alix lächelte ihr zu. „Wir haben unsere gemeinsame Zukunft schon geplant. In zwei Jahren wollen wir uns ein kleines Häuschen kaufen. Jordan möchte eines der Schlafzimmer als Arbeitszimmer nutzen, bis wir eine Familie gründen.“
Sie strahlte vor Glück. Das klingt sehr platt, ich weiß, aber ich hätte diese Heiterkeit, die sie plötzlich verströmte, nicht anders beschreiben können. Ich erinnerte mich an den Tag, als ich sie zum ersten Mal sah: Sie kam in meinen Laden und wirkte, als wäre sie mehr als nur streitbar. Man sah ihr an, dass es nicht einfach war, mit ihr umzugehen. Zuerst machte sie mir Angst, aber ich entschloss mich trotzdem, sie so zu behandeln, wie jeden anderen Menschen auch.
Susannah nahm den Gesprächsfaden wieder auf, indem sie von Joes und ihrer ersten Wohnung erzählte. Es war ein Einzimmerapartment, in dem offensichtlich ein Gespenst gehaust hatte, das zu den unmöglichsten Zeiten – vor allem nachts – die Toilettenspülung betätigte. Die Stimmung hob sich augenblicklich, und wir lachten.
Es überraschte mich immer wieder, wie schnell die Unterrichtsstunden vergingen. Das war die kurzweiligste Stunde meines ganzen Tages – ja, meiner Woche. Margaret musste früher gehen, also versprach ich ihr, den Laden allein zuzusperren. Brad wollte auf seinem Nachhauseweg von der Arbeit vorbeikommen und mich abholen. Normalerweise fuhren wir nicht zusammen, denn er begann seinen Arbeitstag einige Stunden früher als ich. Doch heute Morgen hatte er einen Arzttermin gehabt und mich deshalb zum Laden bringen können.
Ich streichelte Whiskers, bevor ich den Laden abschloss. Dann öffnete ich die Tür zu Colettes Apartment einen Spaltbreit, weil ich wusste, dass sie Whiskers’ Gesellschaft genoss. Eine Zeit lang hatte ich ihn mit nach Hause genommen, doch er fühlte sich einfach sehr wohl in dem Apartment, das zwei Jahre lang sein Zuhause gewesen war. Nachdem ich die Vordertür abgeschlossen hatte, schaltete ich die Alarmanlage ein. Mein wankelmütiger Kater hatte in zwischen also seine Treue und Hingabe auf zwei Menschen verteilt. Glücklicherweise bin ich nicht eifersüchtig, wenigstens nicht, wenn es um die Zuneigung meines Katers geht. Doch was meinen Ehemann betrifft – also, dass ist eine ganz andere Geschichte …
„Hallo, meine Süße“, grüßte er
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