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Die Farben der Zeit

Die Farben der Zeit

Titel: Die Farben der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Majestät. Ist für eine Zeitlang auf Schloß Windsor. Wegen der Bomben, wissen Sie. Hat fürchterliche Angst davor.«
    »Manche nimmt’s schlimm mit«, sagte der Kirchendiener und sah zu der Stelle, wo sich Mr. Spivens und der neue Rekrut aufhielten. »Schwache Nerven, wissen Sie.«
    Der neue Rekrut hatte endlich herausgefunden, wie die Taschenlampe funktionierte. Er knipste sie an und ließ ihren Lichtstrahl die geschwärzten Wände des hohen Chors entlangwandern. Dann richtete er ihn auf Mr. Spivens, der im Schutt neben den Stufen einen Tunnel grub.
    »Verdunklung?« Ich blickte Carruthers fragend an.
    »Oh, mein Gott!« stöhnte Carruthers. »Machen Sie das Ding aus!« schrie er und kroch zu dem Rekruten hinüber.
    »Letzte Woche geh’ ich doch auf den Dachboden, und was seh’ ich da?« sagte der Kirchendiener und blickte zu dem hohen Chor, wo Carruthers dem neuen Rekruten die Lampe entrissen und sie ausgeknipst hatte. »Meinen Schwager, unvorsichtig wie nur was, der dort ein Streichholz ansteckt! ›Warum schießt du nicht gleich ein paar Leuchtkugeln ab, wenn du schon dabei bist‹, sag’ ich zu ihm, ›damit die Luftwaffe auch sichergehen kann, uns zu finden?‹ – ›Es ist doch nur ein einziges Streichholz‹, sagt er. ›Was kann das schon anrichten?‹«
    Er schaute düster umher auf das, was die Luftwaffe offensichtlich so problemlos gefunden hatte, und ich überlegte, ob er seinen Schwager vielleicht dafür verantwortlich machte, aber er sagte nur kopfschüttelnd: »Armer Probst Howard. Es war ein schlimmer Schlag für ihn, die Kathedrale zu verlieren. Ging nicht mal heim. Blieb die ganze Nacht über hier.«
    »Die ganze Nacht?«
    Er nickte. »Wegen der Plünderer.« Wieder blickte er traurig auf die Trümmer. »Nicht, daß hier noch viel zu holen wär’. Aber falls irgendwas noch unversehrt ist, will man schließlich nicht, daß es sich einer unter’n Nagel reißt.«
    »Nein«, stimmte ich zu.
    Betrübt schüttelte er den Kopf. »Sie hätten ihn sehen sollen, wie er durch die Trümmer schritt, hin und her, vor und zurück. ›Geh’n Sie heim und legen Sie sich etwas hin, Mr. Spivens‹, sagte ich zu ihm, ›ich löse Sie ab‹.«
    »Also war seit dem Brand immer jemand hier anwesend«, stellte ich fest.
    »Beinahe immer«, sagte er. »Außer als ich heim zum Tee ging. Und heute morgen hatte es zu regnen begonnen, und ich schickte meinen Schwager nach Hause, um meinen Regenmantel und ’n Schirm zu holen, aber er kam einfach nicht wieder, und so mußte ich selbst los und die Sachen holen. Es wird dunkel«, fügte er mit einem nervösen Blick zum Himmel in Richtung Osten hinzu. »Die Jerries werden bald zurückkommen.«
    Das würden sie sicher nicht tun. Die Luftwaffe hatte beschlossen, sich in dieser Nacht statt dessen London zu widmen. Aber dunkel wurde es tatsächlich. Das entfernte Ende der Kirche, wo Carruthers dem neuen Rekruten gerade lautstark einen Vortrag über Verdunklungsmaßnahmen hielt, lag in Düsternis, und die Fensterhöhle des Ostfensters gähnte zu einem finster werdenden blauschwarzen Himmel. Lichter von Suchscheinwerfern fuhren im Zickzack über den Rauch.
    »Wir machen am besten voran, bevor es richtig dunkel wird«, sagte ich und ging wieder dorthin, wo ich vorher gegraben und die Trümmer begutachtet hatte, um herauszufinden, wie weit des Bischofs Vogeltränke weggeschleudert worden sein mochte. Falls sie nicht von Plünderern weggekarrt worden war. Der Kirchendiener war mindestens eine Stunde Tee trinken gewesen, eine Zeitspanne, während der jeder Vorbeikommende durch das nicht mehr existierende Südportal in die Kirche spazieren und alles, was ihm gefiel, hätte mitnehmen können. Einschließlich des Bischofs Vogeltränke.
    Mein Verstand mußte durch den Schlafentzug gelitten haben. Niemand, nicht einmal ein Mensch mit Kriegsneurose, würde etwas Derartiges stehlen. Oder auf einem Wohltätigkeitsbasar kaufen. Es handelte sich hier um des Bischofs Vogeltränke. Es sei denn, jemand erkannte ihr Potential als psychologische Waffe gegen die Nazis.
    Sie mußte also hier irgendwo sein, zusammen mit dem Rest der Chorschranke und dem Teil der Gedenktafel, auf dem »gkeit« stand, und ich machte mich besser an die Arbeit, wenn ich das alles noch vor Einbruch der Nacht finden wollte. Ich hob ein Kniekissen auf, das noch qualmte und intensiv nach verkohlten Federn roch, legte es in den Gang und machte mich daran, zum hinteren Teil des Schiffes durchzugraben.
    Ich entdeckte noch

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