Die Feenflöte
ihrem inneren Auge auf, gepaart mit ganz deutlichen und sehr unterschiedlichen Gefühlen. Sehr bald erkannte sie einen Zusammenhang mit den einzelnen Sequenzen von Seans Spiel. Unwillkürlich mußte sie an einige der Federzeichnungen aus dem Feenbuch denken, die sie bei dessen Studium gesehen hatte.
Instinktiv drehte sie ihren Kopf in Richtung Tür, als sie unvermittelt einen Luftzug im Gesicht verspürte. Nein, die Tür war verschlossen, ebenso die Fenster. Mit ungläubigem Erstaunen registrierte sie erneut eine kurze Brise, die einen leichten Duft von feuchter Erde mit sich trug. So unglaublich es schien, es konnte ausschließlich die Musik sein, die dies hervorrief. Einen Moment lang überlegte sie, ob es wohl eine Halluzination war, die die Musik in ihr erzeugte, oder ob ihre Sinne zuverlässig funktionierten und das wahrnahmen, was die Musik mit der Luft des Raumes anstellte.
Bevor sie Zeit fand darüber nachzudenken, begann Sean mit einer neuen Melodie. Binnen Sekunden bemächtigte sie sich ihrer Gefühle. Eine Gänsehaut am ganzen Leib ließ sie kurz erschauern, ehe ein wärmer werdender Strom durch sie zu fließen begann, als läge sie in der Sommersonne. Allerdings hätte nicht einmal die Sommersonne vermocht, dieses beglückende Gefühl von Liebe in ihre Herzgegend zu zaubern, das von dort aus wie ein Stern seine Strahlen durch ihr Innerstes schickte. Diese Melodie drückte nicht Liebe aus, sie war die Liebe.
Leise verklang der letzte Ton, und Sean setzte die Flöte ab. Er schien nicht im mindesten erstaunt, als er sich umdrehte und Catherine am Boden sitzen sah. Das bezauberndste Lächeln, das er je auf ihrem Gesicht gesehen hatte, berührte ihn kaum weniger, als sein Spiel sie berührt hatte.
Lange Zeit hielten sie einander stumm umarmt. Schließlich war es Catherine, die das Schweigen brach.
"Wie machst du das?"
Sean grinste. Zärtlich knuffte sie ihn.
"Lach' mich nicht aus, Sean. Sag' schon."
"Ich lache dich nicht aus."
Er atmete tief durch.
"Es gibt eine Menge zu erzählen. Ich glaube, heute war wohl einer der wichtigsten Tage meines Lebens, so bombastisch das vielleicht klingen mag. Und so profan es ist, ich habe einen Riesenhunger!"
"Dann sollten wir nach unten ins Restaurant gehen, und du erzählst mir dort alles."
"Nein, das wäre nicht der richtige Ort." sagte Sean mit leichtem Kopfschütteln.
"Dort kann ich nicht frei sprechen. Nein, laß' uns hierbleiben. Wir lassen uns das Essen vom Room-Service bringen."
Eine halbe Stunde später war das Essen endlich serviert, und Sean hatte seinen ersten Hunger mit der Vorspeise gestillt. Catherine fiel es schwer, ihre wachsende Ungeduld weiter zu zügeln.
"So, jetzt fühle ich mich wesentlich besser." sagte Sean und hob sein Glas.
"Trinken wir auf die Feenmusik."
"Auf die Feenmusik?"
"Nichts anderes hast du vorhin gehört."
Sie stießen an und tranken.
"Kannst du's mir mal von Anfang an erklären?"
Sean lehnte sich bequem zurück und begann, zu erzählen.
"Du erinnerst dich an die ersten Entdeckungen letzte Woche in Paris. Wie du dir sicher denken kannst, hat mich das alles natürlich unglaublich fasziniert und in mir als Musiker den Ehrgeiz geweckt, mehr zu verstehen. In den Tagen seither habe ich intensiv daran gearbeitet. Wir hatten wenig Gelegenheit, darüber zu sprechen, und ich wollte überdies erst einmal zu einem Ergebnis kommen. Insgesamt habe ich eine Ahnung bekommen von dem, was dieses Buch enthält, und ganz besonders, wozu Musik in der Lage ist. Nach allem, was ich in jetzt dazugelernt habe, komme ich mir vor, als sei ich bisher ein Anfänger gewesen. Selbst die großartigsten Kompositionen der menschlichen Musik sind bei all' ihrer Schönheit und der Genialität ihrer Schöpfer eigentlich unausgegoren und geradezu unvollkommen. Damit will ich keinesfalls behaupten, ich könnte es besser, oder es sei ein Kinderspiel, sie zu übertreffen mit den Möglichkeiten, die es da noch gibt!"
Sean nahm einen Schluck Rotwein und fuhr eilig fort. Das Komponieren hatte ihn stets interessiert, schon lange träumte er davon, es selbst zu tun. Er sprach über Partituren, ihre Struktur, die Vielfalt möglicher Interpretationen, welche die althergebrachte Notation zuließ.
"Ich schweife ab. Das gehört im Augenblick überhaupt nicht hierher. Kurz vor unserer Abreise hat Professor Bardoux mir noch eine Mitteilung hinterlassen. Du erinnerst dich, er sprach von seinem Kollegen für alte Sprachen an der Sorbonne. Der glaubt, es handelt sich
Weitere Kostenlose Bücher