Die fernen Tage der Liebe
betreutes Wohnen umzuziehen, bevor
es dafür zu spät war und als letzte Möglichkeit nur noch das Altenheim blieb. Im Kopf war er noch ganz helle, doch offensichtlich
schaffte er es immer weniger, sich um Haus und Hof zu kümmern. Merkmal für betreutes Wohnen: kein Rasen. Vorteil: keine Arbeit
mehr mit dem Mähen, Rechen und Schippen. Merkmal: weniger Wohnraum. Vorteil: weniger Putzarbeit. Merkmal: gemeinschaftlicher
Speiseraum. Vorteil: gesunde Kost, keine miserablen Schnellgerichte.
Traurig, dachte sie. Früher hat er mich angebrüllt, wenn ich nicht spätestens dreißig Sekunden, nachdem ich im Haus gewesen
war, meine Jacke aufgehängt hatte. Und wehe, sie rutschte vom Kleiderbügel und fiel auf den Garderobenboden.
Marcy stand auf und öffnete den Kühlschrank. Irgendetwas roch. Rasch warf sie einen Blick ins Fleischfach, wo Hähnchenschnitzelfür das Abendessen auftauten, zu dessen Zubereitung sie sich nicht aufraffen konnte. Der Grund musste woanders liegen. Marcy
schloss den Kühlschrank und untersuchte den Mülleimer, den sie von Anfang an im Verdacht hätte haben sollen. Jeden Tag den
Mülleimer auszuleeren war so ziemlich das Einzige, worum sie April gebeten hatte, und jeden Tag musste April offensichtlich
daran erinnert werden. Marcy überlegte, ob sie sie herbeirufen sollte, damit sie den Müll hinausbrachte, merkte aber, dass
auch nur der geringste Streit sie vollkommen zermürben würde. Sie zog die Mülltüte aus dem Eimer, band sie zu und steckte
eine frische hinein.
Als sie sich auf dem Weg zu den Mülltonnen am Camry vorbeidrückte, spürte sie die Wärme des immer noch warmen Motors. Sie
versuchte den Wagen mit Aprils Augen zu betrachten. War er denn wirklich so schrecklich, so uncool? Als sie in Aprils Alter
gewesen war, wäre ihr nicht im Traum eingefallen, so eigen zu sein, was für einen Wagen sie fuhr – oder irgendwann fahren
würde. Gottlob, denn letzten Endes war sie ihre ganze Schulzeit hindurch mit der alten Familienkutsche herumgegurkt, einem
Dodge-Kombi. Aber April interessierten solche Geschichten natürlich nicht. Eigentlich interessierte sie überhaupt nur herzlich
wenig, was nicht mit ihr selbst zu tun hatte.
Als sie wieder in der Küche war, fand Marcy die Vorstellung, jetzt den Tisch abzuräumen und zu decken, nicht gerade verlockend.
Vor einer Weile hatte sie Kassensturz gemacht, und überall auf der Oberfläche lagen Rechnungen und Quittungen herum. Außerdem
hatte sie sich ein paar Häuserangebote durchgesehen und Material für eine bevorstehende Hausbesichtigung zusammengetragen.
In dem Durcheinander verstreut lag ferner noch ungefähr ein Dutzend Lebensmittelcoupons, die sie heute Morgen aus der Zeitung
ausgeschnitten hatte.
Verrückt, dachte Marcy. Noch vor weniger als einer Stunde hatte sie an einem Tisch mit einem noch viel größeren Chaos gesessen.
Und offenbar hatte man von ihr erwartet, dass sie es aufräumte. Warum rief der Alte eigentlich ausgerechnet sie an? Wenn er
sich bei ihren Besuchen überhaupt zu mehr als einem oder zwei Sätzen herabließ und tatsächlich mal mit ihr unterhielt, ging
es immer nur um Mike hier und Nick da, jedenfalls war das ihr Eindruck. Aber wenn es ums Kümmern ging, blieb alles an ihr
hängen. So wie vorhin, als sie seinen Pfeifenqualm weggeblinzelt und seine kauzigen Beleidigungen ebenso ignoriert hatte wie
die Nazi-Schoten ihrer eigenen Tochter.
Und ihre erlauchten Brüder? Ließen sich nicht blicken.
Marcy schaute aus dem Fenster. Alles, was jetzt noch fehlt, dachte sie beim Durchblättern der Post, die sie am Morgen hereingeholt
hatte, ist eine fehlende Unterhaltszahlung von dem Mann, den April so vergöttert.
Apropos, dachte sie und sah in ihrer Handtasche nach, ob sie noch genug Bargeld hatte, um auswärts zu essen.
4
April drückte den Absperrknopf an ihrer Schlafzimmertür so sacht wie möglich und hoffte, dass das verräterische Klicken nicht
wie ein Kanonenschuss durch den Flur hallen und ihre Mutter auf den Plan rufen würde. Sonst würde die wie üblich die Treppe
hochstürmen, gegen die Tür donnern und wissen wollen, warum abgeschlossen war. In diesem Haus gibt es keine abgesperrten Türen,
wer nichts zu verbergen hat, schließt auch seine Tür nicht ab, was treibst du überhaupt da drin, Fräulein, und so weiter und
so weiter. In diesem Haus zu wohnen hieß, dass jeder Schritt beobachtet wurde, als wäre man in einer Doku-Soap, bloß dass
es hier statt
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