Die Festung
Leid
anderer nicht auch unseres?
»Viele sind umgebracht worden, und
viele wird man noch umbringen«, sagte ich, und dabei dachte ich an Ramiz.
Aber er schien es nicht gehört zu
haben, er hielt die aneinandergelegten Fäuste vor die Brust, als drückte er
auf eine schmerzende Stelle, bleich, mit verkrampftem Gesicht, ganz einem
einzigen Gedanken zugewandt.
»Ihr Verbrecher!« zischte er durch
die Zähne. »Das zahle ich euch heim! Ich werde den Schuldigen finden. Und wenn
ich die Erde aufwühlen muß, ich finde ihn!«
»Auch wenn du dich rächst, den Hafis
Abdulah machst du nicht wieder lebendig.«
»Ich würde mich zu Tode schämen,
wenn ich meinen Freund vergäße.«
»Tu etwas Nützlicheres. Sie werden
den jungen Ramiz töten.«
»Sie werden alle Ehrenmänner töten.
Tausendfachen Tod haben sie verdient.«
»Deinen Sohn hast du nicht retten
können. Rette ihn.«
Diese Worte überraschten ihn. Mich auch.
Er stand auf und sah mich entsetzt
an. Ich hatte unnachsichtig den Finger auf seine offene Wunde gelegt.
Mit geballten Fäusten, ganz
erstarrt, schien er sich auf mich stürzen zu wollen. Wie hatte ich wagen
können, ihm das zu sagen?
Aber er kam nicht näher, etwas hielt
ihn auf. Vielleicht der plötzliche Gedanke, um des toten Sohnes willen einem Lebenden
zu helfen. Diese Möglichkeit verwirrte ihn, vielleicht erschien sie ihm anfangs
auch ungerecht, mit seinem Zorn nicht vereinbar. Aber er konnte sie nicht so
leicht verwerfen.
Überlegte er, wie gut es gewesen
wäre, wenn jemand versucht hätte, seinen Sohn zu retten? Erspähte er im Nebel
der Verwirrung einen Weg, der seiner Erinnerung mehr Sinn geben konnte? Rührte
sich in ihm die vergessene Menschlichkeit?«
Ich wollte seiner Unschlüssigkeit
ein Ende machen.
»Er wird unschuldig sterben.«
Noch wehrte er sich:
»War mein Sohn schuldig?«
»Deshalb spreche ich doch mit dir.
Du wirst es am besten verstehen. Er hat keinen Vater mehr, der ist im Krieg
gefallen, nur seine Mutter lebt noch. Was kann sie für ihn tun?«
»Und was kann ich für ihn tun?«
»Ich weiß es nicht. Bitte den Wali,
ihn freizulassen.«
»Das wagt er nicht, sie haben alle voreinander Angst.«
»Dann ist er verloren.«
»Seine Mutter lebt noch, sagst du.
Warum hat er nicht an sie gedacht? Kinder denken nur an sich, die Eltern
kümmern sie nicht.«
»Mein Gott, Šehaga, kannst du deinem
Sohn auch im Tod nicht verzeihen, daß er anders gedacht hat als du?«
Das hielt er nicht aus, ich hatte
den wunden Punkt getroffen, ohne es selbst zu wissen, er sah mich mörderisch
an und schrie: »Hundesohn! Was willst du von mir?«
Aber dann senkte er den Kopf und
rang die Hände.
Nach einer langen Pause sagte er leise, ohne mich anzusehen:
»Das hättest du mir nicht sagen dürfen.«
»Ich sage es deinetwegen. Versöhne
dich mit ihm. Trauere um den Toten, aber nicht im Zorn. Junge Menschen handeln
oft unüberlegt, weil sie das Unmögliche wollen. Wie dein Sohn, wie Ramiz.«
»Bist du sein Freund?«
»Nein. Wir kennen uns kaum.«
»Warum verwendest du dich dann für
ihn?«
»Weil es kein anderer tun wird, weil
er allein ist, weil er rechtschaffen ist.«
»Auch du brauchst Hilfe, ich dachte,
daß du von dir sprechen würdest.«
»Mir droht Armut, ihm der Tod. Er
hat es schwerer als ich.«
»Du bist verrückt. Alle, die bei uns
etwas taugen, sind verrückt. Mein Sohn, du und dieser Ramiz.«
»Er ist verrückt, weil er nicht an
sich denkt, sondern an andere. Muß er deshalb sterben?«
»Ist er für die Behörden wichtig?«
»Sehr. Seine Worte haben sie tief
getroffen.«
Auf einmal veränderte er sich, ein
bösartiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.
»Wie wäre es, wenn wir ihn
entführten? Sie würden vor Wut verrecken!«
Gerade hatte ich geglaubt, ihm den
Teufel ausgetrieben zu haben, da fing er wieder auf die alte Manier an. Der
Schmerz war ihm durch fremde Schuld zugefügt worden, und Heilung konnte ihm nur
Unheil bringen, das er anderen zufügte.
»Es wäre nicht leicht für sie«,
stimmte ich zu, als ich die unerwartete Möglichkeit für Ramiz' Rettung
erblickte. Šehagas Grund ging mich nichts an.
Es war seltsam, wie er auf einmal in
Bewegung geriet, seine Miene war nicht mehr finster, sondern entschlossen, ein
dünnes Lächeln um seine Lippen verriet die Freude auf den Triumph, die Hände
lagen ruhig nebeneinander, der Körper hatte sich gestrafft. Das war ein anderer
Šehaga, ein Mann, der Rache brütete.
Das waren Augenblicke, in denen er
sicher
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