Die Festung
Leben. Nur ist es
gewöhnlich kurz.«
»Was ist besser, schön und kurz,
oder lang und häßlich? Ein Rabe lebt dreihundert Jahre.«
»Ein Rabe weiß nicht, daß er lebt.«
»Wir wissen es, das ist unser
Schicksal.«
»Es ist unser Unglück.«
»Glück und Unglück.«
Ich merkte, worauf er hinauswollte.
Er hatte die Grenze erreicht, würde er sie
überschreiten? Würde er den Grund seiner Verzweiflung preisgeben?
Nein, er wagte es nicht.
Er nahm wieder Zuflucht zu mir.
»Warum hast du das bei Hadschi
Duhotina getan?«
»Aufrichtig gesagt, ich weiß es
nicht. Ich war gerade aus dem Krieg zurückgekehrt, ich war
verwirrt und verbittert. Ich weiß es nicht.«
»Hat Mula Ibrahim dich deshalb
entlassen?«
»Er ist unschuldig. Sie haben ihn
gezwungen.«
»Mula Ibrahim ist ein Feigling.«
»Er kann nichts dafür. Es ist, als
wäre er taub oder mit krummer Nase geboren worden.«
»Denkst du wirklich so, oder ist das
eine List?«
»Leider habe ich nicht gelernt,
listig zu sein. Ich habe kein Talent dafür.«
»Wie alt bist du?«
»Im Mai werde ich fünfundzwanzig.«
»Im Mai?«
»Ja. Warum?«
»Ich frage nur so, ich rede nur so.
Damit wir nicht schweigen.«
Sein Sohn war auch im Mai geboren.
Es hatte ihn betroffen, aber nicht einmal darüber wollte er sprechen.
Dann wanderte er wieder durch das
große Zimmer, den Blick auf den Teppich gesenkt.
Die Uhr im Nebenraum schlug, die
Zeit verging, aber wir schwiegen, als hätten wir einander vergessen.
Nein, wir hatten einander nicht
vergessen.
In Gedanken verglich er mich mit
seinem toten Sohn, wir waren im selben Jahr und im selben Monat geboren, wir
hatten am selben Krieg teilgenommen, das hatten wir gemeinsam, er war tot, und
ich lebte, das hatten wir nicht gemeinsam. Und was sollte er mit mir, mir
helfen, damit ich ihm eine Mahnung war, oder mich fortschicken, damit ich ihm
keinen Schmerz zufügte?
Ich vergaß ihn auch nicht. Diese
Stille zwischen zwei lebenden Menschen peinigte mich, sein monotones Wandern
von Wand zu Wand störte mich, allmählich wurde ich auch ärgerlich: warum hatte
er mich eingeladen? Damit ich ihn anstarrte, so verschlossen und abgesondert
wie er war? Warum war ich gekommen? Um Zeit zu verlieren, um einzusehen, daß
ich seine Aufmerksamkeit für keine Sekunde auf mich lenken konnte?
Sollte ich jetzt fortgehen, mit dem
vorwurfsvollen Gedanken, daß ich mich einem hoffärtigen Menschen vergebens
genähert hatte?
Nein, ich konnte nicht, ich wäre nie
wieder zurückgekehrt, wenn ich jetzt ging. Vielleicht brauchte er meine Hilfe.
Er war am Ertrinken, ich mußte ihm die Hand reichen.
Ich beschloß, in sein Schweigen
einzubrechen.
»Weißt du, warum sie den Hafis
Abdulah getötet haben?«
»Nein.«
»Ich weiß es. Ich war gestern in der
Moschee.«
Er blieb stehen wie vom Blitz
getroffen.
»Alle haben den Studenten Ramiz
angegriffen, er hat ihn verteidigt.«
Das war nicht die Wahrheit, aber ich
sagte es absichtlich.
Er setzte sich plötzlich hin, warf
den Panzer ab, verringerte den Abstand, verließ die Schanze, war auf einmal am
Gespräch beteiligt.
»Was ist geschehen? Erzähle! Alles!«
Ich erzählte, kurz über die anderen,
ausführlich über den Hafis, wobei ich verschwieg, daß er den jungen Mann
geopfert hatte, um die Gerechtigkeit zu verteidigen. Ich log nicht, sagte aber
auch nicht die ganze Wahrheit, damit der tote Greis mein Verbündeter bei Šehaga
sei. Gestern hatte ich ihm verargt, daß er Strafe für Ramiz forderte, ich
wußte, daß die Menschen nicht vollkommen waren, doch ich war enttäuscht, wenn
ich mich davon überzeugen mußte, und nun versuchte ich, seinen Fehler oder
Irrtum wiedergutzumachen. Vielleicht war es auch kein Fehler oder Irrtum. Er
hatte Gerechtigkeit statt Gewalt verlangt und allen einen Spiegel vorgehalten,
damit sie die eigene Häßlichkeit sahen, wenn sie schon die anderer angriffen.
Er war mutig und rechtschaffen aufgetreten, ohne jemand zu schonen, und dafür
hatte er büßen müssen. Ich machte nichts falsch, wenn ich ihn zum Zeugen
anrief.
»Dann haben sie ihn umgebracht«,
rief Šehaga erregt. »Ihn auch!«
Also auch ihn. Den Sohn und den
Freund. Beide hatte er mehr als alles im Leben geliebt, beide waren getötet
worden. Etwas anderes sah er nicht, etwas anderes berührte ihn nicht.
Ich wollte ihn darauf hinweisen, daß
sie nicht die einzigen waren. Es gab noch mehr Leid außer dem seinen. Die Welt
war voller Unglück. Ich wußte, uns berührte nur das eigene, aber war das
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