Die Festung
hat, an andere Menschen. Aber wen ich mir auch vorstelle, er hat
seine Augen, sein Gesicht, seine Stimme. Und wieder fängt mein Magen an zu
rumoren. Nur Kräuterschnaps hilft mir.«
»Um zu vergessen.«
»Um zu vergessen oder auch nicht,
aber es erleichtert. Ich sitze hier, ehrlich gesagt, ich bin vor ihm
davongelaufen, und denke: Na gut, was habe ich vor Gott gesündigt, daß er mich
so straft? Da waren zwar die Kupfermünzen und noch ein paar Kleinigkeiten, aber
was kümmert das Gott? Er wird doch nicht so kleinliche Rache üben. Nein, es ist
einfach mein Schicksal. Aber warum gerade meins? Das ist nicht gerecht. Ich
habe niemandem Böses getan. Jahrelang habe ich von so etwas geträumt, was mir
jetzt zufällig in den Schoß gefallen ist, und kaum habe ich mich an den Geruch
im Speicher gewöhnt, da kommt schon wieder ein Unglück. Nun sag mir nur, warum?«
Seine Stimme war weinerlich, voller
Trauer. Bei allem, was er erlebt hatte und dessen Zeuge ich geworden war, hatte
er sich nicht halb so sehr gegrämt. Er hatte leichtfertig gelebt, stets zum
Betrug bereit, von Hoffnung erfüllt, und nun sah er schwarz. Das Glück war ihm
unverhofft vor die Füße gefallen, nur damit er einsah, daß es nicht für ihn
geschaffen war.
»Was will Avdaga von dir?« fragte
ich.
»Wenn ich das wüßte, wäre mir
leichter. Gerade weil ich es nicht weiß, ersticke ich ja.«
»Hast du irgend etwas getan, worüber
er Bescheid wissen möchte?«
»Ich überlege schon dauernd, mir
platzt fast der Kopf. Umsonst, da gibt es nichts. Aber ich sehe, er ist
mißtrauisch. Er kann seinen Verdacht nicht beweisen, darum sagt er auch nicht,
was es ist, und ich kann ihn nicht zerstreuen, weil ich nicht weiß, worauf er
hinauswill.«
»Was kümmert es dich! Dann bleibt es
eben beim Argwohn.«
»Nein, mein Ahmet, leider nicht. Es
geht um eine große Sache, mit Kleinigkeiten würde er sich nicht so lange abgeben,
und über einen muß er den Stab brechen. Und der bin ich. Wenn sie den richtigen
nicht finden können, muß irgendwer herhalten. Also Mahmut. Mich wird keiner
beschützen, keiner wird sich wundern, keiner mich bedauern. Ich bin das Opfer,
das sehe ich. Der eine ist fürs Glück geboren, der andere fürs Unglück. Ich bin
das Opfer.«
Aus seinen schmalen Augenschlitzen
tropften Tränen, der Schnaps und die Angst hatten ihn völlig weichgemacht.
»Dummes Zeug!« sagte ich scharf. »Du
hast keine Schuld, sie können dir nichts anhaben. Was heißt hier Opfer! Du
meinst, daß er nur dich verdächtigt? Er verdächtigt jeden.«
Das half, offenbar weil ich ihn
nicht bedauerte.
»Glaubst du?« fragte er
hoffnungsvoll.
»Ich glaube nicht, ich weiß. Wenn du
aber weiter so trinkst und flennst, machst du dich verdächtig.«
»Glaubst du?«
»Sicher. Geh in den Speicher, an
deine Arbeit. Wenn er wiederkommt, frag ihn: Was willst du? Und gewöhn dich an
ihn. Ich mache es so. Er fragt immer dasselbe, antworte du immer dasselbe!
Irgendwann bekommt er es satt.«
»Glaubst du?«
Schon zum drittenmal stellte er
diese Frage, ohne zu widersprechen, er wollte, daß es so war, wie ich sagte,
er verlangte danach, überzeugt zu werden. Er liebte die Trauer nicht, und
dieser Augenblick der Schwäche war vorübergehendes Selbstmitleid, das er nicht
lange aushalten konnte. Schon blickte er heiterer, schon sah er sicherer aus,
schon redete er närrischer. Der Blick in Freundesaugen schien ihm Kraft zu
geben, wenn auch triigerische. Für ihn war sie wirklich und willkommen. Ich
dachte, daß dieser merkwürdige Mensch gestorben wäre, hätte er allein leben
müssen, ohne Freunde oder Menschen, die er für seine Freunde hielt. Meine
leeren Worte richteten ihn auf, weil sie seinem Leichtsinn entgegenkamen und
weil sie freundschaftlich klangen.
»Du hast recht«, sagte er mutig.
»Wenn er kommt, werde ich ihn fragen: Was schnüffelst du? Scher dich zum Teufel!«
Dann sah er wohl Avdagas Bild vor
sich, und sein Mut schwand dahin.
»Vielleicht sage ich es auch nicht.
Du traust dich, ich nicht.«
»Ehrlich gesagt, ich wage es auch
nicht immer. Aber in der Wut sagt man sich: Mach, was du willst, man stirbt nur
einmal!«
Dieser Mut ohne Hintertürchen,
dieser verrückte Trotz waren nicht nach seinem Sinn.
»Das ist es ja, mein Ahmet, daß man
nur einmal stirbt. Stürbe man zweimal, dreimal, dann käme es einem nicht so
drauf an. Aber so muß man ein Held oder ein Irrer sein, um sich nicht zu
fürchten. Ich bin nicht allzu stolz, weil ich kein Irrer bin, ein
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