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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Gottes Gnade. Er war Gott und den Menschen zur Last geworden.«
    »Bećir Toska soll ihn getötet
haben, heißt es. Wieso war Bećir Toska um diese Zeit in der Nähe?«
    Osman warf mir einen kurzen Blick
aus grauen und kalten Augen zu. Dann sprach er, und seine Worte klangen nicht
demütig, sondern drohend: »Gott hat es so gewollt. Oder Avdagas Unglück.«
    In diesem Augenblick begriff ich:
Avdagas Tod war sein Werk! Bislang hatte ich es vermutet, jetzt wußte ich es
sicher. Es lag an den Worten, die gewöhnlich klangen, aber nicht zu ihm paßten,
an der drohenden Mahnung, die in seiner Stimme mitschwang, am kalten Funkeln
seiner schmalen Augen, an dem Gedanken, der mir ohne eine Spur Zweifel gekommen
war. Es war, als wären sich zwei Strahlen aus meinem und seinem Hirn begegnet,
in der Sekunde, als wir an dasselbe dachten. Zwischen uns gab es kein Geheimnis
mehr.
    Gleich darauf teilte er Mahmut mit,
daß an diesem Tag noch ein paar Ladungen Wolle eintreffen würden und daß er
Sackleinwand und Bindfäden bereithalten solle.
    Ich blickte ihm nach, um mich zu
vergewissern, wie ein Mörder im Frieden aussah (im Krieg hatten wir sie Helden
genannt). Und ich sah nichts Besonderes: er war schön, ruhig, alltäglich,
geschäftig, erfüllt von den Sorgen des heutigen Tages, das Morgen kümmerte ihn
nicht. Ich wußte nicht, wie es in seinem Herzen aussah, aber ich glaube nicht,
daß er aufgeregt war oder an den Getöteten dachte. Wenn er an ihn dachte, dann
in Zufriedenheit: Er hatte eine wichtige Arbeit getan, ein ernsthaftes
Hindernis beseitigt, über seinem Kopf hing keine Gefahr mehr.
    Wenn zehn solcher rücksichtsloser
Menschen zusammengekommen wären, sie hätten die Welt beherrscht. Die große
Mehrheit bestand aus Schwächlingen. Was hätten wir gegen sie ausrichten können?
    Mahmut wirkte grausam, aber er war
es nicht. Er war arglos wie ein Kind, fast tanzte er vor Glück, das ihm durch
fremdes Unglück beschert worden war, und er dankte seinem vergessenen Gott,
weil er ihn aus einer Not befreit hatte, gegen die er selbst sich nicht hatte
wehren können. Osman vertraute mehr der eigenen Geschicklichkeit als Gottes
Gnade, er wartete nicht tatenlos auf den günstigen Zufall, er zertrennte
entschlossen die Knoten, die ihn fesselten, und ging weiter.
    Er hatte nicht selbst getötet, aber
es war sein Werk. Wer weiß, wie viele Mittler zwischen ihm und dem Tod standen,
den er erheischt hatte. Zwischen seiner Absicht, diesen Tod herbeizuführen, und
jenem letzten, der am Hahn gezogen hatte, stand eine ganze Kette verborgener
Menschen. Jener letzte hatte vielleicht nie von Osman gehört. Aber ohne Osman
wäre Avdaga noch am Leben gewesen. Osman war sein böses Geschick.
    Als ich ging, rief er mir zu:
»Šehaga will dich sehen. Er hat gesagt, du sollst sofort kommen.«
    Auf der Straße hielt ich den Kopf
gesenkt und wich den Leuten aus, um nicht die Geschichte von Avdagas Tod hören
zu müssen. Am liebsten hätte ich nicht an ihn gedacht, aber ich dachte
unablässig an ihn.
    Er würde nicht mehr an der
Straßenecke stehen, hochgewachsen, gebeugt, mit schwerem Blick, der alles sah,
er würde mir nicht mehr über den Weg laufen und mich fragen, worüber ich mit
dem alten Omer Skakavac gesprochen hatte, ich würde nicht mehr täglich mit dem
angstvollen Gedanken an die nächste Begegnung mit ihm erwachen.
    Aber ich empfand keine Freude, ich
grübelte: Hatte ich ihn getötet?
    Ich hatte mir gewünscht, von Angst
und Gefahr befreit zu sein, doch seinen Tod hatte ich nicht gewünscht.
    Um nicht spätere Reue fürchten zu
müssen, stellte ich mir selbst unbarmherzige Fragen: hatte ich nicht im Grunde
meiner Seele gerade diesen Ausweg erwartet? Gab es denn überhaupt einen
anderen? Hätte Osman den Serdar überzeugen, bestechen, einschüchtern können?
Sicher nicht. Avdaga hätte alles verächtlich abgelehnt. Was also war dem
rücksichtslosen Osman Vuk übriggeblieben? Sich auf sein Glück und Gottes Gnade
zu verlassen, wie er gelästert hatte, während er den Mord schon plante? Nein,
das sah Osman nicht ähnlich. Für ihn lag die Lösung in dem, was er getan hatte,
etwas anderes gab es nicht. Weder für Osman noch für Avdaga. Wäre Avdaga
schlauer gewesen, hätte er Angst bekommen; wäre er weniger redlich gewesen,
hätte er Geld angenommen; wäre er leichtsinniger gewesen, hätte er von allem
die Finger gelassen. Aber er war, was er war, und daran konnte ihn nur der Tod
hindern. Und seinen Tod hatte nur Osman planen können.
    All

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