Die Festung
schwerer machen, aber er suchte nach Heilung wie ein hoffnungslos Kranker,
der nichts zu verlieren hat.
Ich würde nicht zulassen, daß er
mich zu hassen begann, wenn er eine Enttäuschung erlebte, wenn er sah, daß die
Arznei nicht half, ich würde mich rechtzeitig von selbst davonmachen, aber
jetzt konnte ich nicht ablehnen.
Mich rührte seine Trauer, die er zu
verbergen suchte, aber nicht verbergen konnte, und seine Suche nach Frieden,
den er nicht finden konnte. Auch jetzt würde er ihn nicht finden. Ich konnte
nicht jemand anders sein, auch nicht das, was er im Gedächtnis trug, und der
Schatten des toten Sohnes würde ihm stets näherstehen als ich, der ich lebte.
Ich würde ihm Erleichterung verschaffen, wenn auch nur vorübergehend. Und schon
das war ein Gewinn.
Sollte es also sein, ich würde diese
Reise der Hoffnung unternehmen. Ich würde nur anwesend sein, er mußte an alles
andere denken. An alles, was er brauchte.
Tod in Venedig
Mußte ich diese weite Reise unternehmen?
Ich tat es einem anderen zuliebe, ohne Lust und Notwendigkeit. Vielleicht
konnte es mir nützen, diese fremde fränkische Welt kennenzulernen. Ich sage:
vielleicht, denn ich glaubte es nicht. Außer Kaufleuten reisten nur Menschen,
die keine Ruhe hatten, die nicht mit sich allein bleiben konnten, sie jagten
nach neuen Bildern für ihre Augen, während ihr Herz leer blieb.
Was würde ich dort sehen, Glück oder
Elend? Vom Glück konnte ich nichts nach Hause bringen, und fremdes Elend würde
mich nicht über das hinwegtrösten, in dem ich selbst lebte. Dennoch erwartete
ich etwas.
Doch je weiter ich mich von Sarajevo
und Bosnien entfernte, desto verzagter, ja furchtsamer wurde ich. Besonders
gegen Abend und nachts. Es gab keinen sichtbaren Grund dafür, ich hatte keine
Angst vor etwas Bestimmtem, aber meine Unsicherheit wuchs ständig. In mir
geriet alles durcheinander, als wäre ich von einer unbekannten Krankheit
befallen, deren Symptom nicht Schmerz, sondern Bange war. Ich spürte Leere im
Herzen und Trauer, alles war fremd, die Landschaft düster, die Menschen kalt,
der Himmel fern, eine beängstigende Welt.
Ich erinnere mich genau, daß mir in so
einem Augenblick äußerster Unsicherheit selbst die gewöhnlichsten Dinge zum schlimmen
Erlebnis wurden. Wir näherten uns der Küste, seit zwei Tagen lag der bosnische
Schnee hinter uns, der grausam gewesen, mir aber nun teuer geworden war, da ihn
die Entfernung geschmolzen hatte, der graue Karst verursachte Übelkeit. Auf
einer Anhöhe erblickte ich ein steingedecktes Fischerhaus mit hoher Hofmauer
und die schwarz am Himmel aufragende Gestalt einer alten Frau; sie rief jemandem
etwas zu, den ich nicht sah, allein in der trostlosen Steinwüste. Bei anderer
Gelegenheit hätte ich geglaubt, daß sie wegen des Viehs oder aus sonst einem
Grund nach einem Nachbarn oder Hausgenossen riefe. Dies aber war ein Bild der
Verzweiflung. Ich starrte es bedrückt an, unfähig, mich meines Entsetzens zu
erwehren: Der letzte Mensch, allein auf der Welt, die zu Stein geworden war,
schrie seine Klage in den Himmel.
Was will ich hier? fragte ich mich
in panischer Angst. Was will irgendwer irgendwo auf der Welt?
Später gewöhnte ich mich an meine
Betrübnis. Als unsere bewaffneten Begleiter nach Hause aufbrachen, beneidete
ich sie als die glücklichsten Menschen von der Welt, weil sie nach Sarajevo
zurückkehrten, von dem ich mich immer weiter entfernte. Und ich wurde immer
unsicherer, als hätte ich die Wurzeln ausgerissen, die mich am Boden
festhielten.
Mit schmerzlicher Sehnsucht dachte
ich an Tijana, die Entfernung zwischen uns, die leere Zeit ohne sie taten mir
weh. Ich war allein und verloren gewesen, bevor ich sie fand, ein glücklicher
Stern hatte mich zu ihr geführt. Ich war erloschen gewesen, sie hatte mir
Leben gegeben, barmherziger als dem Kind, das sie trug. Der Krieg und das Leben
hatten mich aus der Bahn geworfen, sie gab mir Sicherheit, doch nur, wenn ich
bei ihr war. Sie war die Erde, die mich mit ihren Säften nährte, sie war die
Luft, die ich atmete, sie war die Sonnenseite meines Daseins.
Warum hatte ich sie verlassen?
Ich dachte an den närrischen Mahmut,
der beim Abschied geweint hatte, vielleicht weil er nicht nach Venedig mit
konnte, vielleicht weil wir uns lange nicht sehen würden; ich dachte an den
toten Serdar Avdaga, der es nicht zugelassen hatte, daß ich Leere und
Langeweile empfand; ich dachte an den guten ängstlichen Mula Ibrahim, der sich
über diese Reise
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