Die Festung
linke Brustseite.
Der Arzt nickte. So würde er es auch
aufschreiben: Herzschwäche.
Uns und ihm war das einerlei. Auch
dem Kranken war es gleichgültig. Dies sei ausschließlich unsere Angelegenheit,
hatte Šehaga gesagt. Es war kein Ruhmesblatt für uns, doch helfen konnte
niemand mehr.
Šehaga beruhigte sich ein wenig, nur
seine Hand tastete schwach nach der Osmans.
Osman wandte sich um.
»Er hat verlangt, daß ich unsere
Lieder singe, und ich habe gesungen. Er wollte, daß ich in unserer Sprache
spreche, ich habe gesprochen. Mehr weiß ich nicht.«
Die Hand bewegte sich noch, bittend
und matt.
Osman ergriff seine Finger. Sie
versuchten zuzufassen. Er wollte etwas.
Osman sah mich an.
Ich nickte ihm zu: sprich, irgend
etwas!
Über Šehagas Gesicht geneigt, das
immer hoffnungsloser erbleichte und nur um die verkrampften Lippen einen blauen
Ring zeigte, begann Osman mit vor Erregung heiserer Stimme Zahlen herzusagen.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf ...«
Etwas wie Erleichterung ging über
die bleichen Wangen, ein Schatten trauriger Befriedigung überzog das Gesicht
des Sterbenden, und unter einem Lid rann eine Träne hervor. Noch lebte er, noch
hielt er Osmans Hand, noch verlangte er nach diesen Worten, diesem kargen
Liebesdienst.
Auf einmal begriff ich alles, und
ich erschauerte am ganzen Körper. Osman Vuk, der Gauner, Glücksspieler, Mörder,
tat das Edelste, dessen ein Mensch fähig war. Šehaga verlangte nach
heimatlicher Wärme hier in der Fremde, vor der endgültigen Fremde, die ihn
unerbittlich zu sich rief. Oder nach einer menschlichen Stimme, die still sein
immer schwächeres Gehör erreichte, auf daß er nicht allein war vor der großen
Einsamkeit, nicht ganz und gar verlassen vor der großen Einöde.
Sein Haß auf die Heimat und auf die
Menschen war nur Verletztheit gewesen. Und als der Rachegedanke im Angesicht
des Todes schwächer geworden war, hatte sich sein wirkliches Wesen gezeigt,
Liebe zu den Wurzeln und Sehnsucht nach menschlicher Nähe.
Was für letzte Gedanken gingen ihm
durch das erlöschende Gehirn? Was für Bilder, welches Leid, welche Freude vielleicht?
Stellte er sich seine heimatliche Landschaft vor, aus der er auf der Flucht vor
sich selbst davongelaufen war? Sah er Menschen, die er geliebt hatte? Bedauerte
er, nicht anders gelebt zu haben? Hingen die letzten Krumen seiner Erinnerung
am Himmel der Kindheit, den wir niemals vergessen können?
Im Anfang
Liebe,
im Leben Haß,
am Ende
Erinnerung.
Die Liebe war dennoch stärker als
alles.
Dann trieb mir ein Gedanke eiskalten
Schweiß auf die Stirn. Wenn ich mich nun geirrt hatte? Wenn dieser letzte Druck
von sterbender Hand nur eine Aufforderung zur Rache war?
Nein, das wollte ich nicht denken,
ich hatte nicht das Recht, alles durch Zweifel zu entwürdigen, er hatte selbst
verlangt, daß unsere Sprache das letzte war, was er hörte. In der Stunde seines
Todes hatte er die Rache vergessen und sich an das erinnert, was er insgeheim
liebte.
Oder die Erinnerung war gekommen,
nachdem er Osman sein Rachegelüst zugeflüstert hatte, beruhigt in der Gewißheit,
daß die Schuld grausam heimgezahlt würde.
Ich erfuhr es nicht, beide
schwiegen, der eine tot, der andere am Leben, aber mißtrauisch, doch ich hätte
es gern gewußt, selten hatte ich so danach verlangt, etwas zu wissen, als hätte
mir diese Erkenntnis viele menschliche Geheimnisse entschleiert.
Ich hatte dem Tod eines mächtigen
Mannes beigewohnt, der seine Trauer nicht verwinden konnte, ich hatte
vielleicht einem Mord aus der Ferne beigewohnt, ich hatte menschlichen Haß
gesehen, aber ich fragte mich wie besessen nur eines: War sein letzter Gedanke
Rache oder Liebe gewesen?
Als hinge all mein Leben davon ab.
Ich entschied mich für die Liebe. Es
war weniger glaubhaft, weniger wahrscheinlich, aber edler. Und schöner: So
hatte alles mehr Sinn. Der Tod und das Leben.
Die Festung
Traurig sah ich zum Abendstern in der
fremden Stadt, im fremden Land auf.
Und ich dachte: Vertrauter Stern,
ich kenne dich nicht.
In die Heimat zurückgekehrt, erkannte ich alles wieder,
auch mich selbst.
Ich weinte fast, als ich den Duft
der geliebten Erde spürte.
Ich flüsterte erregt, als hielte ich
eine geliebte Frau im Arm: Ohne dich bin ich krank, ohne dich ist mein Herz
verloren, ohne dich sind meine Gedanken verstümmelt.
Dasselbe empfand ich, als ich Tijana
umarmte, ihre heilsame Nähe fühlte, ihren betörenden und befreienden Duft
atmete.
Ich dachte nicht über Not und
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