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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Immer wieder tauchte ich aus erstickenden Tiefen auf und fand sie über
mich gebeugt.
    »Es ist heiß«, sagte ich. »Heute
nacht haben sie ein starkes Feuer im Backofen gemacht.«
    »Ist dir besser?«
    »Bleib bei mir.«
    Ich aber ging fort von ihr, in die
Finsternis, zu den Ge spenstern. Und fand sie wieder neben mir, wann immer ich
die Augen öffnete. Sie war ein stiller Hafen, in dessen Frieden ich einkehrte,
schiffbrüchig, aber glücklich über meine Heimkehr.
    Ich bedauerte sie, weil sie wachte,
und hatte Angst, sie könnte einschlafen. Wer hätte mich aufgefangen, wenn ich
aus dem Fiebertraum auftauchte?
    »Du strengst dich zu sehr an. Leg
dich hin, mir ist schon besser.«
    Sie legte sich hin, aber ich spürte
weiter ihre Hand auf mir, auf meinem Herzen, der Stirn: sie kämpfte gegen meine
Schmerzen.
    »Du läßt mich nicht schlafen«, sagte
ich scheinbar vorwurfsvoll, dabei wünschte ich mir nur das, nichts im Leben
war mir lieber und teurer.
    »Geht es
dir wirklich besser?«
    »Ja. Schlaf
jetzt.«
    Ich schloß die Augen und versuchte,
mich ganz zu entspannen, damit meine Ruhe auch sie einschläferte. Bald begann
sie tief zu atmen, von Müdigkeit überwältigt.
    Ich beugte mich über ihr Gesicht und
sah die langen Schatten der Wimpern auf den runden weichen Jochbögen. Ihr
liebes Bild verdrängte die Traumgespenster und die drohenden Blicke aus der
Wirklichkeit. Ich hatte sie, alle anderen gingen mich nichts an.
    Mein Arm
ermüdete, ich legte mich wieder hin.
    Sie wachte
auf, erschrocken.
    »Was ist?«
    »Ich sehe
dich an.«
    Ihre großen Augen waren voller
Angst, der Mund wie zum Schrei geöffnet.
    Wie schön
sie war.
    Ich küßte sie auf die Wange, und
sogleich beruhigte sie sich, der Ausdruck der Angst wandelte sich zu einem
verträumten Lächeln.
    Und während die Küchenschaben durch
das Zimmer krochen, Möbel, Fußboden, Wände benagten, worauf sie sich uns
zuwenden würden, während der Mond weiterwanderte und ihr Gesicht im Schatten
zurückließ (was mir leid tat, ich hätte das silberne Licht gern auf sie
gerichtet, um sie nicht zu verlieren),
währenddessen hörte ich die Schritte der ersten Passanten auf der Gasse und
dachte über sie und mich nach. Sie hatte ein besseres Los verdient, aber was
hätte ich ohne sie angefangen? Ich hatte sie aus ihrer Welt gerissen, in meiner
war sie nicht zu Hause, ich war alles, was sie besaß und was zu besitzen sie
sich erträumt hatte, Liebe, Zärtlichkeit, Sicherheit, Schild. Das war meine
Hilfe, ihre Mädchenträume. Noch war ich für sie der Ersehnte. Aber was würde
sein, wenn der Sturm des Lebens dieses zarte Gespinst zerriß, das feiner war
als Spinnweben, wenn der Mann aus den Träumen zu dem wurde, was ich in dieser
Nacht war, kläglich und gedemütigt? Alle menschlichen Träume begannen so und
endeten so. Sie würde entsetzt erwachen. Sie würde nichts mehr haben, nicht
einmal ein Trugbild.
    Ich weiß nicht, warum ich mich an
die Sümpfe bei Chotin und den älteren Sohn des Barbiers Salih vom Alifakovac
erinnerte, es gab keinen Zusammenhang mit uns, keine auch nur äußerliche
Ähnlichkeit. Dennoch erinnerte ich mich. Und auf einmal wurde mir klar, warum
er sich getötet hatte. Der jüngere Bruder hatte zu ihm aufgeschaut wie zu einer
Gottheit, hatte sich in seinem Verhalten nach ihm gerichtet, war an seiner
Seite tapfer gewesen, weil er an seine Stärke glaubte, seine Ernsthaftigkeit
und Sauberkeit bewunderte. Und dann war dieser Bruder aus den Träumen binnen
einer Nacht so jämmerlich geworden wie alle anderen.
    Und so besudelt, war dieser Mann vor
sich selbst gedemütigt gewesen, hatte sich und jenen Vorwürfe gemacht, die ihn
zu der häßlichen Tat verleiteten, aber ohne seinen Bruder hätte ihm das nicht
so schwer auf dem Herzen gelegen. Daß er sich beschmutzt hatte, hätte er
überlebt und verschmerzt, einmal hatte es dazu kommen müssen, aber er hatte
seinen Bruder vernichtet, indem er ihm in einem einzigen Augenblick alles
nahm, die Vergangenheit und die Hoffnung.
    Dieser jüngere Bruder hatte auf
Posten geweint, sie hatten ihn fortgeschickt, damit er bei der Gewalttat nicht
zusah, aber er hatte alles gesehen, und dann
hatte er einsam die ganze Nacht geschwiegen, auf einmal ohne Stütze, vollkommen
allein auf der Welt, selbst sein naiver Glaube war verschwunden.
    Die Menschen sind so, wie wir über
sie denken und sie uns vorstellen. Wir erträumen uns das Leben und die Welt.
Aber wie können
wir unsere eigenen Träume und die der anderen

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