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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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bewahren? Die anderen sehen uns, wir
sehen die anderen, und alles wird aufgedeckt wie auf einem lustigen Maskenball, nur daß dies nicht lustig ist.
Einmal erwachen wir und schauen uns entsetzt um: Was ist aus unseren Träumen
geworden?
    Auch Tijana würde sich fragen: Was
ist aus meinen Träumen geworden?
    Ich hatte ihr nicht die Sterne vom
Himmel versprochen, obwohl auch so etwas getan und geglaubt wurde, manchmal
lange, nie bis zum Ende. Gehorsam hatte ich an jedem Feiertag die Kerzen vor
dem von Fliegen beschmutzten Sultansporträt angezündet, hatte Briefe und
Beschwerden geschrieben, die immer gleich waren, und mich nicht einmal bei ihr
über diese langweilige Arbeit beschwert, hatte den kläglichen Verdienst, der
sich nie erhöhen würde, bis zum letzten Heller nach Hause gebracht, und ich
konnte weder ihr noch mir versprechen, daß es bald anders sein würde. Und
dennoch war ich glücklich: Nie würden wir reich an Geld sein, aber reicher als
alle anderen an Liebe; ich hatte keine Angst vor dem Leben oder den Menschen,
nur davor, daß sie meiner überdrüssig werden könnte; ich war allein gewesen,
jetzt hatte ich meine Welt, als hätte ich einen Planeten erobert; ich würde
jeden daran hindern, in unser Reich einzudringen, unseren Frieden zu bedrohen.
    Aber in dieser Nacht war der
Herrscher dieses Reiches über der Vorstadtbäckerei voller Küchenschaben,
Ratten, Husten und Gerassel, dieses eroberten eigenen Planeten von drei Meter
Breite, in dieser Nacht war der Herrscher besudelt und eingeschüchtert worden.
Nicht einmal die Russen hätten mir das angetan, wäre ich ihnen in ihrem Land in
die Hände gefallen; sie hätten mich getötet, und das wäre ehrenhaft gewesen.
Aber unsere Leute hatten es getan; die eigenen Leute tun so etwas immer. Und
zwar so, daß die Spuren für das ganze Leben bleiben. Vergebens hatten sie mich
am Abend zuvor gewaschen, vergebens würde ich mich am nächsten Tag und in den
nächsten Jahren waschen, die Erniedrigung konnte ich nicht von mir abspülen.
    Ich wandte den Kopf und drückte das
Gesicht in das heiße Kissen: Was hatten sie aus mir gemacht?
    Und warum?
    Weil ich dumm, weil ich betrunken,
weil ich auf eine Herausforderung eingegangen war? Weil ich gesagt hatte, was
ich nicht dachte? Oder weil ich gesagt hatte, was ich dachte? Wenn sie sich so
an den Spatzen rächten, was würden sie mit den Sperbern anfangen? Was waren
sie? Freche Narren? Schwachsinnige Gewalttäter? Bestien?
    Ich, ein kleiner und schwacher Wurm,
was konnte ich ihnen, den Elefanten, tun? Was für Schaden konnte ich ihnen
zufügen?
    Ich war eine Faust, die gegen die
Wand schlug.
    Ich war ein Schlag, der demjenigen
Schmerzen verursacht, der zuschlägt.
    Ich war Sand unter ihren Füßen, ein
Vogel, der verstummte, wenn der Sperber über den Wald flog, ein Regenwurm,
den die Glucke aufpickte, wenn er aus seinen unterirdischen Gängen kroch.
    Ich war ein kleiner Mann, der
vergessen hatte, daß er klein war. Ich hatte sie beleidigt, weil ich mich
erfrechte zu denken.
    Wozu brauchten sie diese Rache? Um
mich einzuschüchtern und damit zugleich andere? Um über einen Schwachen zu
triumphieren? Um die Gedanken zu verbieten? Die Worte?
    Ich konnte keine Antwort finden.
Diese sinnlose Grausamkeit entsetzte mich. Wo waren wir? In was für einer Welt
lebten wir?
    Oder war vielleicht auch dies ein
Traum, weil es nicht möglich sein konnte, daß es in Wirklichkeit absolute Sinnlosigkeit
gab?
    Aber nein. Traum war das, was man
sich wünschte, das Leben war Erwachen.
    Habt ihr das gewußt, meine toten
Kameraden aus den Dnjestrsümpfen? Wann habt ihr das Erwachen, die Trauer
erlebt? »Alles geht vorüber, Herr«, hatte der stille Ibrahim Paro gesagt. Aber
was für ein Trost war das? Die Freude würde vorübergehen, die Liebe, das Leben.
War denn Hoffnung darin, daß alles vergänglich war? Dennoch, auch dies würde vorübergehen, diese Schande,
dieses Entsetzen, diese Pein, um derentwillen ich ohne Seufzer gestorben wäre.
    Ich rückte näher an Tijana heran,
damit das teure Wesen mich gegen die Angst vor dem neuen Tag abschirmte. Sie
spürte mich im Schlaf und schmiegte sich an mich. Ich atmete den Duft ihres
Haares ein und flüsterte lautlos, während ich bittere Tränen der Wut
hinunterschluckte: Auch dies wird vorübergehen, mein Liebes. Vergiß, was du
gesehen hast. Erwache nicht aus deinem Traum, weder morgen noch irgendwann.
Wir werden es wieder schön haben, vergiß, was du weißt. Auch ich werde
vergessen, wenn

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