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Die Festung

Die Festung

Titel: Die Festung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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nicht übersehen wurde wie eine Bank, eine Wand, ein Hund.
    Und wenn seine Macht heute abend nur
Schein war, morgen würde sie Wirklichkeit sein, und er brauchte nichts zu
bedauern. Dieses Zusammensein mit den Menschen, Schulter an Schulter, in gutem
Gespräch, das war kein Schein. Wenn er morgen wieder vor dem Nichts stand,
würde die Erinnerung bleiben.
    Aber so weit dachte Mahmut nicht.
    Vielleicht hatte er auch recht. Für
ihn war nicht wichtig, was war, sondern was er sich vorstellte. Gott sei Dank,
daß es so war. Heute abend war er ein anderer Mahmut Neretljak, wie er ihn
ersehnt, jahrelang erträumt hatte: ohne Asthma, ohne Krampf in den Beinen, ohne
heimlichen Kummer im Herzen.
    Leider konnte die Täuschung nicht
lange dauern.
    Er war nicht böse, als ich sagte,
ich wolle nach Hause gehen, er versuchte mich auch nicht aufzuhalten, sondern
entließ mich mit großzügiger Geste. Heute abend war er nicht allein. Bisher
hatte ich ihm notgedrungen diese Menschen, dieses Gespräch, diese Wärme
ersetzt. Jetzt kam er ohne mich aus.
    Es war ihm gegönnt, morgen würde er
wieder zu mir kommen.
    Ich eilte nach Hause, es war dunkel
und kalt, die Gassen leer, die Menschen verkrochen sich in ihren Häusern, die
Dunkelheit hatte sie verscheucht wie Vögel.
    Tijana wartete einsam im leeren
Zimmer auf mich, es war nicht recht, daß ich sie allein ließ, ich würde ihr
sagen, daß ich es nicht mehr tun würde, obwohl ich nur aus Rücksicht auf andere
so handelte, aber was gingen mich die anderen an, was ging mich Mahmut
Neretljak mit seiner Torheit an, wir hatten Verständnis für jeden, nur nicht für
unsere Nächsten, wir glaubten, ihre Treue gehöre uns von Natur aus, wie die
eigene Haut.
    Ich hoffte, daß sie mich nicht
ärgerlich empfangen würde, denn dann hätte ich meine Schuld
nicht zugegeben, und wir hätten bis zum Schlafengehen miteinander geschmollt.
Dann wäre mir der Genuß der schönen Reue und das trügerische Glücksgefühl wegen
der eigenen Güte entgangen. Und wegen ihres Verzeihens. Es würde wundervoll
sein, wenn sie klug war und mich wegen meiner Unaufmerksamkeit nicht tadelte.
Wenn sie auf ihrem Recht bestand, würde ich es ihr streitig machen und meine
Schuld nicht gestehen, gerade weil ich schuldig war. Aber das wollte ich sagen,
nicht von ihr hören. Und wir würden uns streiten, sie würde weinen und meine
zahllosen Sünden aufzählen, ich würde toben und die Götter zu Zeugen dafür
anrufen, daß ich der Unglücklichste aller Menschen sei und von niemandem
verstanden würde. Dann würden wir uns plötzlich versöhnen, und es würde schön
sein wie nach einem Regen, einem Gewittersturm.
    Es würde schön sein, ganz gleich,
wie sie mich empfing.
    Vor dem Hoftor trat mir Mula Ibrahim
entgegen, der Advokat, mein einstiger Freund und Arbeitgeber. Er tat, als mache
er einen Spaziergang, was nützlich ist vor dem Schlafengehen, und sicher hatte
er im Dunkeln seine Augen angestrengt, damit er meinen Schatten erkannte und
ich ihm nicht entwischte.
    »Komm herein«, flüsterte er und zog
sich in den Eingang zurück.
    »Du hast bestimmt lange gewartet.
Sonst komme ich früher nach Hause.«
    Ich sagte das nur, um etwas zu erwidern,
um meine Verwunderung zu überspielen, weil ich ihn hier und um diese Zeit sah.
Ich hatte auch Angst. Was war geschehen? Drohte mir Gefahr? Aber ich beruhigte
mich sogleich bei dem Gedanken, daß er nicht einmal in die Nähe meines Hauses
gekommen wäre, wenn auch nur der Schatten einer Gefahr bestand. Ihm konnte man
unbesorgt über einen zugefrorenen Fluß folgen, wie einem Fuchs.
    »Ist dir
jemand gefolgt?« fragte er vorsichtig, ohne auf meine verlegenen Worte von der
Verspätung einzugehen. »Warum sollte mir jemand folgen?«
    »Ich habe
mich heute ...«
    Mein Nachbar, der betrunkene
Straßenwäscher, Zučo, kam vorüber.
    Mula Ibrahim verstummte und drückte
sich hinter mir an die Wand.
    Ich lachte.
    »Wovor hast du Angst? Er ist
betrunken und würde nicht einmal sich selbst im Spiegel erkennen, geschweige
denn dich.«
    »Ich habe mich heute mit Šehaga
Sočo über dich unterhalten. Er hat nach dir gefragt«, fügte er ehrlich
hinzu.
    »Was hat Šehaga nach mir zu fragen?«
    »Er könnte dir helfen. Er hat gesagt,
daß du hinkommen sollst.«
    »Wie will er mir helfen?«
    »Er kann dir Arbeit besorgen. Er
kann alles.«
    »Was verlangt er für diese
Gefälligkeit?«
    »Nichts. Er erwähnte deinen Namen,
wir haben uns über dich unterhalten, ich habe erzählt, was ich weiß,

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