Die fetten Jahre
»Du brauchst bloß auf seine Körpersprache zu achten, total plump. Und seine Hände sind so groß wie Mistschaufeln. Wie kommt der Scheißkerl überhaupt dazu, Gitarre zu spielen?!« »Ist eben ein dreckiger Bauer!«, knurrte der Getreue von der Qinghua grimmig. Alle warfen dem muskelbepackten Gitarristen hasserfüllte Blicke zu. Da kam mir plötzlich die Idee: »Warum nicht heute Abend, hier und jetzt …?« Die Jungs verstanden mich sofort. Einer von ihnen knurrte: »Wir holen unser Werkzeug.«
Wir warteten vor dem Laden. Der Gitarrenprotz spielte und trank bis spät in die Nacht mit den anderen Musikern, was unseren Hass nur noch zusätzlich schürte. Als er schließlich herauskam, folgten wir ihm, auf der Suche nach der geeigneten Gelegenheit, um zuzuschlagen. Er lief zu Fuß zu einer Bushaltestelle, und dort setzte sich der Idiot doch wirklich an einem geschützten Platz an einer Hauswand zum Schlafen hin. Meine Getreuen fielen aus dem Nichts über ihn her und ließen ihre Stöcke so lange auf ihn niederregnen, bis er sich nicht mehr rührte. Ich sah aus einiger Entfernung zu und dachte: Gut so, Jungs. Der entkommt uns nicht lebend! Doch da kam auf einmal ein Jeep Cherokee angefahren, und wir machten uns aus dem Staub.
Ich habe lange überlegt, ob ich Z von dieser Sache erzählen sollte, denn es gab nur zwei mögliche Reaktionen: großes Lob oder strengsten Tadel. X wäre schockiert, wenn er von dieser Sache erführe, Y würde mich dafür sogar aufs Schärfste verurteilen, Z hingegen mochte mich nach einer solchen Offenbarung durchaus in einem ganz neuen Licht sehen. Ich entschied mich, das Risiko einzugehen und erzählte Z, welch augenöffnende Wirkung sein Vortrag über »Liebe« auf mich gehabt hatte, dass mir seine Implikationen klar waren und ich sie auch in die Tat umzusetzen wusste. Denn um Großes zu bewegen, braucht es die nötige Portion Hass. Meine unausgesprochene Botschaft an ihn lautete: Ich übernehme die Drecksarbeit für dich, wenn es nötig ist. Wie gewohnt hörte er mir zu, ohne die geringste Regung zu zeigen, und dann passierte tagelang erst einmal nichts. Doch zum Glück erwies sich einmal mehr, dass ich ein sicheres Gespür für Menschen habe. Meine Beförderung zum Vollmitglied von Doppel-S heute ist der Beweis, dass ich aufs richtige Pferd gesetzt habe.
Ich bin jetzt vierundzwanzig. Der Plan, den ich mir mit zwanzig zurechtgelegt habe, geht nach und nach auf. Aber jetzt ist nicht die Zeit, mich entspannt zurückzulehnen Wo war der Vorsitzende Mao mit dreißig? Er saß im Zentralkomitee der Partei, zusammen mit nur vier anderen Mitgliedern. So betrachtet muss ich mich noch sehr viel mehr ins Zeug legen.
Nachtrag: Doppel-S setzt sich zusammen aus den Anfangsbuchstaben der Nachnamen zweier Deutscher – auch wenn einer von ihnen Jude war –, deren politische Theologie und philosophische Abhandlungen anfangs Studiengegenstand unseres Zirkels waren. Inzwischen spielt es schon keine Rolle mehr, um wen es sich dabei handelte.
Nachtrag II: Es gibt ein Detail, das mir Sorgen bereitet, und das ist die Tatsache, dass Wei Xihong meine Mutter ist. Sie ist ein Risikofaktor für meine Karrierepläne. Ich muss diese Unwägbarkeit ausräumen. Zu Maos Zeiten wäre sie schon lange als Konterrevolutionärin verurteilt worden, heutzutage ist der Staat einfach zu tolerant. Ich habe versucht, meinen Verbindungsmann beim Staatsschutz einzuschalten, damit man sie in einer Klinik langfristig ruhig stellt, erhielt aber die Antwort, das eile nicht; man habe alles unter Kontrolle und wolle sie erst noch eine Weile herumstreunen lassen, um zu sehen, mit wem sie sich so trifft. Mir bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Auf der Suche nach dem verlorenen Monat
Audionotiz von Fang Caodi.
Ich habe endlich einen Bruder gefunden. Er heißt Zhang Dou, zählt ganze zweiundzwanzig Lenze, kommt aus Henan und wohnt abseits von Peking in Huairou. In Anbetracht der Tatsache, dass ich bereits mehr als fünfundsechzig Jahre auf dem Buckel habe, sei mir erlaubt, ihn meinen kleinen Bruder zu nennen. Haha!
Wie ich besitzt er noch die volle Erinnerung an den verschwundenen Monat, jene achtundzwanzig Tage zwischen dem Beginn der Feuer-und-Eis-Periode und dem Anbruch des Goldenen Zeitalters. Er hat sie zwar nur in einer abgelegenen Ecke in Huairou erlebt, aber er hat sie nicht vergessen. Er erinnert sich an alles, was damals passiert ist, genau wie ich. Zwei Jahre des Suchens haben mir gezeigt, wie überaus selten, ja
Weitere Kostenlose Bücher