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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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Vorträge, während X sich ums Organisatorische kümmert, selbst aber nicht in Erscheinung tritt, denn offiziell lädt Q die Teilnehmer ein. Q versteht sich am besten darauf, junge Menschen zu manipulieren, besonders vor Patriotismus sprühende Masterstudenten mit gesunder Halbbildung. Q ist von sich selbst sehr eingenommen, möchte auch einmal Lehrmeister der Herrschenden sein. X, Y und Z können darüber nur die Nase rümpfen, sie bemängeln sein akademisches Resümee, seine zu geringe Zahl an Veröffentlichungen und seine ständig wechselnden Standpunkte. Wenn sie unter sich sind, nennen sie Q »den Rattenfänger«. Denn ihnen ist völlig klar, dass bei einer geistigen Revolution – und genau das ist es, worauf Doppel-S abzielt – die Rollen je nach der individuellen Stärke des Einzelnen unterschiedlich verteilt werden. Die des Kinderfängers darf dabei nicht fehlen.
    Das erste Mal, als ich mich Z öffnete, erzählte ich ihm, wie ich den Lehrsatz, dass Politik in der Unterscheidung von Freund und Feind bestehe, praktisch umzusetzen gedachte. Schon im zweiten Studienjahr habe ich begonnen, Mitstudenten zur systematischen Suche nach reaktionären Meinungsäußerungen im Internet anzuleiten, diesen entgegenzutreten und reaktionäre Websites zu melden. Später sind wir von der virtuellen in die reale Welt übergegangen. Professoren, die offen westlich-liberale Wertvorstellungen vertraten, wurden durch uns umgehend beim Präsidenten oder beim Parteisekretär der Universität angezeigt. Unser Modell funktioniert wie ein Franchising-Unternehmen und es gibt mittlerweile Ableger an einigen weiteren Hochschulen. Ich wollte damit meinen Handlungswillen verdeutlichen und Z darauf aufmerksam machen, dass eine große Zahl von Studenten auf meine Anweisungen hört, ja, mich regelrecht verehrt. Ich bin ein charismatischer Anführer der jungen Generation.
    Z äußerte sich nicht weiter dazu, aber als er kurz darauf fragte, ob ich schon mal einen Kurs bei diesem Professor Gong belegt hätte, wusste ich, dass er genau zugehört hatte. Ich verstand seinen Fingerzeig und machte mich sogleich an die Arbeit. Meine Nachforschungen ergaben, dass dieser Kerl namens Gong in seinen Seminaren Kritik an den autokratischen Implikationen des politischen Konfuzianismus geäußert hatte. Ich sorgte dafür, dass einige seiner Studenten zum Präsidenten gingen und sich über Gongs Verunglimpfung chinesischen Kulturguts beschwerten. Dazu starteten wir noch eine Online-Petition, die eine detaillierte Aufklärung des Vorfalls und den Ausschluss Gongs aus dem Lehrbetrieb forderte. Die Sache läuft zwar noch, aber Gongs Ansehen haben wir damit bereits jetzt übel ramponiert. Ich denke, Z war mit dieser Vorstellung sehr zufrieden.
    Was ich ihm nicht erzählt habe, ist, dass der Staat inzwischen ebenfalls Anerkennung für meine langjährige Informantentätigkeit gezeigt hat. Die Abteilung für Internetkontrolle der Polizei sowie die Staatssicherheit haben kurz nacheinander offiziell Kontakt zu mir aufgenommen. Ich bin jetzt also Auge und Ohr der höchsten Sicherheitsbehörden im Land. Davon habe ich weder Z noch den anderen im Studienzirkel etwas erzählt, um ihr Vertrauen zu mir nicht zu gefährden. Wenn ich denen da oben berichte, dass ich in den inneren Kreis des Doppel-S-Studienzirkels aufgenommen wurde, werden sie noch mehr Verwendung für mich haben.
    Die zweite Sache, von der ich Z erzählte, war folgende: Vor einem halben Jahr, als ich gerade Anwärter von Doppel-S geworden war, hörte ich einen öffentlichen Vortrag von Z über Liebe und das Goldene Zeitalter Chinas. Darin sagte er: »Unsere Gesellschaft heute ist von ›Liebe‹ erfüllt. Die Medien propagieren Liebe, Brüderlichkeit und Altruismus. Die Menschen fühlen sich wohl, tragen diese ›Liebe‹ in ihren Herzen. Jeder ist glücklich und zufrieden und überall im Land herrscht nichts als Harmonie. Gewaltdelikte gehen zurück, selbst häusliche Gewalt gibt es kaum noch. ›Liebe‹ ist etwas sehr Mächtiges.« Jedes Mal, wenn Z das Wort »Liebe« gebrauchte, setzte er es mit einer Geste in Anführungszeichen.
    Sein Vortrag begeisterte mich nicht sonderlich, denn er enthielt kaum irgendetwas Neues. Doch gegen Ende horchte ich plötzlich auf. Wie beiläufig ließ Z folgende Sätze fallen: »Wir sind alle damit beschäftigt, zu ›lieben‹, es gibt keinen Krieger­-geist mehr, da es keine Feinde mehr gibt. Wir können gar nicht mehr hassen …« Ich saß da wie vom Donner gerührt. Welch

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