Die fetten Jahre
bin ich auf der Xingdong Road Meister Chen von der Ming Pao Monthly beziehungsweise der United Daily News begegnet. Ich hatte ganz vergessen, dass er auch immer ein Klardenker war; hat mir einmal einen großen Gefallen getan. Ob er jetzt einer von denen ist? An seinem Blick konnte ich erkennen, dass die Chance, in ihm einen von uns zu finden, nicht besonders groß ist. Aber man sollte keine Gelegenheit ungenutzt lassen! Ich werde ihm beizeiten einen Besuch abstatten.
Chens Notizen über Fang Caodi
Xiaoxi beziehungsweise nurernstgemeintesOK antwortete nicht. Stattdessen bekam ich eine Mail von Fang Caodi, der sich mit mir treffen wollte. Ich schrieb nicht gleich zurück.
In letzter Zeit drehten sich all meine Gedanken um Xiaoxi, die Begegnung mit ihr ließ mich einfach nicht los. Doch merkwürdigerweise folgte auf die Erinnerung an Xiaoxi häufig die an die Begegnung mit Fang Caodi vor dem Happy Village II und an das wirre Zeug, das er dabei von sich gegeben hatte. Wir kannten uns schon so viele Jahre, in denen ich für ihn immer bloß »Herr Chen« gewesen war. Und jetzt sprach er mich auf einmal mit »Meister Chen« an. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass es irgendeine Gemeinsamkeit zwischen seinem Verhalten und dem Xiaoxis gab, die ich jedoch nicht recht in Worte zu fassen vermochte.
Ich öffnete einen der Kartons, die seit meinem Umzug ins Happy Village II unberührt geblieben waren, und sah die darin verstauten Notizbücher durch. Eines davon enthielt meine alten Aufzeichnungen zu Fang Caodi.
Fang Caodis Geburtsname war Fang Lijun. Seinen Namen hatte er erst nach dem kometenhaften Aufstieg eines gleichnamigen Malers in Fang Caodi ändern lassen.
Ich lernte ihn während meiner Zeit als Redakteur beim Hongkonger Magazin Ming Pao Monthly kennen. Damals bekam ich häufig Post von einem Leser aus den USA, der sich schlicht Fang nannte. Oft korrigierte er lediglich die Fakten und Argumente in meinen Artikeln, weitaus häufiger jedoch schickte er mir eine Menge weiterführendes Material zu meinen Reportagen, das leider meistens zu detailliert war, als das ich es hätte verwenden können. Aber es zeigte, dass dieser Fang sehr gut über das China der Gegenwart informiert war und viel von den Dingen wusste, die nicht Teil der offiziellen Landeschronik waren. Schließlich bat ich ihn per Annonce darum, mir seinen vollständigen Namen und seine Anschrift mitzuteilen. Wenig später erhielt ich tatsächlich Antwort und schrieb ihm einen Brief, in dem ich ihm für seine Unterstützung dankte.
Er schien meine Arbeit genauestens zu verfolgen: Selbst Artikel, die ich unter Pseudonym in der Festlandausgabe der Ming Pao veröffentlichte, entgingen ihm nicht. Heutzutage würde man jemanden wie ihn wohl als meinen Fan bezeichnen.
Im Sommer ’89 trafen wir uns dann in Hongkong zum ersten Mal. Er war auf dem Weg zurück aufs Festland, was mir durchaus bemerkenswert erschien, denn damals wollten eigentlich alle raus aus China. Er fragte mich, ob ich Kontakte zu einer der Rettungsorganisationen für die Anführer der Studentenproteste hätte, und ich verwies ihn an die Hongkonger Allianz zur Unterstützung der Patriotischen Demokratiebewegung in China. Ich wusste damals noch nichts von der Operation Yellowbird, die verfolgte Studentenführer aus China herausschleuste.
Die Lebensgeschichte dieses Mannes war so außergewöhnlich, dass ich mich am darauf folgenden Tag erneut mit ihm traf und unser Gespräch in meinem Notizbuch festhielt.
Fang Lijuns Familie stammte aus Shandong, er selbst wurde 1947 in Peking geboren, das damals noch Beiping, nördlicher Friede, hieß. Sein Vater war im Gefolge des nordchinesischen Kriegsherren Sheng Shicai in Xingjiang zunächst der sowjetischen KP beigetreten, hatte jedoch wie dieser später die Seiten gewechselt und sich den Nationalisten angeschlossen. Kurz vor der Einnahme Beipings durch die Volksbefreiungsarmee 1949 floh er mit dem Flugzeug nach Qingdao und setzte sich von dort per Schiff nach Taiwan ab. Seine blutjunge dritte Ehefrau ließ er zurück, zusammen mit seinem jüngsten Sohn, Fang Lijun.
Die Kommunisten, denen sich Sheng Shicai kurzzeitig anschloss, hatten nicht viel mit der KP unter Mao Zedong und Zhu De gemein – eines ihrer erklärten Ziele war sogar die Abspaltung Xinjiangs von China. Doch Fangs Vater hatte nicht nur die KP verraten, indem er zur Kuomintang übergelaufen war. Er hatte auch enge Verbindungen zur Unterwelt Nordwestchinas und war darüber hinaus mit einem
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