Die fetten Jahre
nichts stimmte mit meinen Erinnerungen überein. Noch etwas später kam ich zu dem Schluss, dass in ihrem Gedächtnis schlicht achtundzwanzig Tage fehlten. Um mir zu beweisen, dass nicht ich, sondern sie sich irrten, suchte ich in Bibliotheken nach Zeitungen und Nachrichtenmagazinen aus jener Zeit – nur um festzustellen, dass diese nur noch in elektronischer Form zur Verfügung standen und nicht mehr als Printausgabe. Die Berichte aus dem elektronischen Archiv passten überhaupt nicht zu meiner Erinnerung. Dort schien der Ausbruch der großen Weltwirtschaftskrise und der Beginn des Goldenen Zeitalters in China lückenlos ineinander überzugehen, ohne jegliche Spur dieses einen, schrecklichen Monats dazwischen.
Ich habe immer geglaubt, dass das Volk nicht vergessen würde, ganz gleich, welche Taschenspielertricks von offizieller Seite auch angewandt wurden. Nun musste ich jedoch erkennen, dass diesmal eine umfassende und gründliche kollektive Amnesie herrschte. Ich vermute, die groß angelegte Vogelgrippe-Impfung im Frühjahr jenes Jahres könnte etwas damit zu tun haben, aber Beweise dafür habe ich nicht.
Ich begann, Antiquariate und Secondhand-Buchläden zu durchstöbern, auf der Suche nach Berichten aus jener Zeit, aber alles, was ich finden konnte, waren Staatsblätter und Klatschmagazine, keine zuverlässigen Quellen.
Ich kaufte mir einen Jeep Cherokee aus Pekinger Produktion und machte mich auf gen Süden, um weiter im Inland nach Beweisen zu suchen. Nur an ein paar entlegenen Orten wurde ich fündig. So zum Beispiel in einer Pension am Fuße des Huang Shan, des Gelben Berges, wo ich eine im Ganzen erhaltene Ausgabe von Caijing entdeckte, einem bekannten Finanzmagazin, mit Berichten über die neue Weltwirtschaftskrise und wie sie dabei war, auf China überzugreifen. In einem Hotel des Filmparks Hengdian Movie World in Zhejiang fand ich eine Ausgabe des Hongkonger Magazins Asia Weekly, das über Panikkäufe und Lebensmittelknappheit berichtete; im Universitätsviertel von Wuhan fand ich eine zerrissene Seite der China Youth Daily mit der Schlagzeile: »Der Leviathan ist da!«; es ging um Thomas Hobbes, der einmal gesagt hat, dass Menschen, vor die Wahl gestellt zwischen Anarchie und Tyrannei, sich für Letzteres entscheiden; ein anderer Artikel befasste sich mit den Massenausschreitungen in Weng’an 2008 und dem Totalversagen der Lokalregierung; in Hunan, im Gebiet der Tujia-Minderheit, fand ich einen Ausschnitt aus Southern Weekend mit Werbung für einen Radioempfänger Made in China; damals ging die Angst vor Stromausfällen um und die Leute kauften massenhaft Radios, um nicht von der Außenwelt abgeschnitten zu werden. Auf der Rückseite war ein Artikel über die Anti-Kriminalitätskampagne von 1983.
Nach und nach wurde es immer schwieriger, solche Zeitdokumente aufzustöbern, daher war ich ganz außer mir vor Freude, als ich in Wudaokou die Februarausgabe der Southern Weekend fand.
Doch was ich eigentlich noch dringlicher suchte, waren Menschen wie mich. Ich habe eine Liste aller Leute aufgestellt, die ich kenne, und daraus dann eine mit denen, die mir stets vernünftig und klar im Kopf erschienen waren. Ich nenne sie Klardenker. Einen nach dem anderen habe ich sie aufgesucht, wurde jedoch ein ums andere Mal enttäuscht. Es war wie in einem dieser Katastrophenfilme: Ich schien der letzte meiner Art zu sein. Aber in solchen Filmen stößt der Held am Ende immer noch auf andere Überlebende. Dieser Gedanke ließ mich durchhalten.
Und dann, endlich, fand ich Zhang Dou. Wir glauben fest daran, dass dies erst der Anfang ist. Unter den 1,3 Milliarden Chinesen muss es noch mehr von uns geben.
Ich habe Zhang Dou erzählt, dass mir sein Zuhause immer besser gefällt. Ich fahre jeden Tag hin, um zu sehen, ob der stets sanft lächelnden Miaomiao und ihren vielen Tieren etwas fehlt. Zhang Dou sagt, wenn er entlassen wird, kann ich gerne zu ihnen ziehen. Das ist großartig! Ich brauche einen sicheren Aufbewahrungsort für meine Beweisstücke. Ich kann seine Entlassung kaum erwarten!
Eine ergänzende Aufnahme: Habe, eine Krankheit vortäuschend, zwei Tage im Krankenhaus damit verbracht, Kontakt zu weiteren Asthmatikern aufzunehmen. Dabei habe ich stets wie beiläufig den verschwundenen Monat angesprochen – aber keiner von ihnen konnte sich an ihn erinnern. Ich bin sehr enttäuscht. Dann muss ich meine Theorie wohl fallen lassen. Ich stehe wieder ganz am Anfang.
Noch eine Notiz als Erinnerung: Letzte Woche
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