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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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sorgfältige und subtile Argumentationsführung! Was für ein Genie!
    Ich erinnere mich, wie Y einmal sagte: »Nur wenige Menschen auf der Welt haben eine philosophische Ausbildung genossen. Deshalb mangelt es ihnen an Einsicht. Wenn wir Philosophen sie mit der Wahrheit konfrontieren, gehen sie auf uns los – so, wie sie damals Sokrates umgebracht haben.« Ein weiser Philosoph sagt daher in der Öffentlichkeit nur Dinge, die der Masse genehm sind und ihrer Unterhaltung dienen. Aber er wird hier oder da eine winzige Andeutung machen, in der sich für Eingeweihte seine tatsächliche, große Absicht offenbart.
    Z und Y hatten sich derselben Sache verschrieben, also verbarg sich auch hinter Zs Worten weitaus mehr, als es den Anschein hatte.
    Das Thema Liebe war für die Masse bestimmt, die seinen Vortrag als Plädoyer für dieses Gefühl verstehen würde, oder als Rechtfertigung ihrer Notwendigkeit in Chinas Goldenem Zeitalter. Doch tatsächlich beschrieb Zs Vortrag lediglich die Auswirkungen des allgemeinen Liebestaumels. Das Entscheidende war seine Feststellung, es gebe »keinen Kriegergeist« mehr. Damit wurde all das Gerede über Liebe schlagartig relativiert. Diese versteckte Botschaft war für Eingeweihte wie mich bestimmt – denn Kriegergeist ist eine der großen Tugenden, der sich die Mitglieder von Doppel-S verschrieben haben, so auch Z. Wenn Kriegergeist aber etwas Positives war, dann konnte sein Fehlen nur negativ bewertet werden. Und das war überall dort der Fall, wo die Liebe dominierte. Menschen mit philosophischer Bildung, wie ich, begriffen schnell, dass Liebe hier auch Aspekte wie Brüderlichkeit und Altruismus mit einschloss. Diese aber ersticken jeglichen Kriegergeist schon im Keim – denn Hass und Feindschaft treiben den Krieger an. Z ging es also darum, eine Liebe abzulehnen, die selbst den Feind mit einschließt. Ja, er bedeutete uns gar, dass es notwendig sei, uns Feindbilder zu suchen und Hass zu entwickeln, um den Kriegergeist in uns zu entfalten. Ich hatte ihn verstanden.
    Dies war der Schlüssel, mit dem ich später sein Vertrauen gewann. Unverzüglich wählte ich sechs Kommilitonen aus, die mir ihre Treue versichert hatten, und begann mit dem Kampftraining. Die Studenten von heute haben keinen Mumm, ihnen fehlt jeglicher Killerinstinkt. Die gefühlsduselige Atmosphäre unserer Gesellschaft hat auch sie geprägt und völlig verweichlicht. Manchmal frage ich mich, ob ich selbst nicht auch schon zu viel davon abbekommen habe, zu zaghaft geworden bin, um noch Großes zu vollbringen.
    Ich musste also ihren Killerinstinkt wecken, ihnen einschärfen, dass wir nicht verlernen dürfen zu hassen, eine Trennlinie zu ziehen zwischen uns und unseren Feinden. Wir sahen uns Dokumentarfilme über das Massaker von Nanjing, die Vernichtungslager der Nazis und ähnliche Themen an. Danach sollten sie sich vorstellen, wie sie beispielsweise systematisch Rache an den Japanern nahmen. Einmal während eines Camping-Ausflugs kam uns die Idee, zur Abhärtung zwei streunende Hunde zu töten, aber die Mistviecher entkamen ihnen. Was für unfähige Schwachköpfe die Studenten heutzutage doch sind.
    Ich musste lange warten, doch schließlich fand ich die passende Gelegenheit für ihr Initiationsritual.
    Im Fünf Aromen, dem heruntergekommenen Restaurant in Wudaokou, das meine Großmutter führt, haben wir jeden Abend Konzerte mit junger Folkmusik. Für mich ist es eine Beobachtungsplattform, mittels derer ich mich in die Psyche der chinesischen Jugend einfühlen kann. Eines Abends saß ich dort mit meinen Getreuen, die Truppenmoral war schlecht, und es blieb nur der Blick in die Flasche. Vielleicht lag es am Alkohol, auf jeden Fall zeigte einer meiner Begleiter, Student an der Qinghua, auf den groß gewachsenen Gitarristen der Band, die gerade spielte und meinte:
    »Seht euch den Typen mit der Gitarre an. Man sieht doch auf den ersten Blick, dass der vom Land kommt.«
    Der das sagte, stammte selbst aus einer Bauernfamilie, hatte aber nichts als Verachtung für die bäuerliche Klasse übrig. Bauern waren für ihn Parias, die nicht das geringste Mitleid verdienten. Die Armen hassen sich untereinander; Bauern verachten Bauern, Kinder schikanieren am liebsten andere Kinder, das habe ich schon vor Jahren erkannt.
    Er redete weiter: »Seht euch das an, ein Berg aus Bauernfleisch, echt widerlich!«
    »Der Kraftprotz spielt aber gar nicht schlecht«, warf ein anderer ein, erntete jedoch umgehend Widerspruch von einem dritten:

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