Die fetten Jahre
einmalig, das ist.
Genau wie ich ist er Asthmatiker und nimmt seit Jahren Kortisonspray. Daraus schließe ich, dass unser fehlender Gedächtnisverlust mit der Verwendung des Sprays zusammenhängen könnte. Ha! Was für eine großartige Neuigkeit! Das bedeutet, dass es unter den Asthmatikern im Land noch viele geben muss, die wie wir ihre Erinnerung bewahrt haben, nur wissen sie nichts von der Existenz der anderen. Wenn es mir gelingt, ein paar hundert von ihnen zu finden, dann werden wir dem restlichen Volk schon beweisen, dass dieser Monat tatsächlich existiert hat. Das wäre ja gelacht!
Letzten Freitag besuchte ich einen Bekannten in Wudaokou. Im Erdgeschoss seines Hauses ist ein Geschäft für Outdoor-Bedarf, und weil ich nun schon mal da war, sah ich mir die aktuellen Sonderangebote an. Dabei entdeckte ich unter einem Warenstapel eine Seite der Southern Weekend aus dem versch-wundenen Monat, aus einer der letzten Ausgaben dieser Zeitschrift, bevor sie eingestellt wurde! Es war, als hätte ich einen Schatz gehoben. Ich kaufte irgendetwas und nahm heimlich auch die Zeitungsseite mit. Am nächsten Tag ging ich in einem kleinen Café neben dem Yongle-Tempel ins Internet und verglich meinen Glücksfund mit der elektronischen Version im Zeitungsarchiv. In der Tat gab es gewaltige Unterschiede. Ein Artikel über die Anti-Kriminalitätskampagne war komplett verschwunden, stattdessen fand sich in der elektronischen Version ein Beitrag mit dem Titel: »Warum die westlich-universellen Werte nicht zu China passen«. Als ich der offensichtlichen Verfälschung von Tatsachen gewahr wurde, dank der die als liberal bekannte Southern Weekend mit einem Mal gegen universelle Werte wetterte, vergaß ich für einen Moment, dass in dem Café noch andere Gäste saßen, und lachte laut auf.
Diese Zeitungsseite ist Beweisstück Nummer 71 in meiner Sammlung, in der ich die wahren Ereignisse, ja überhaupt die Existenz dieses Monats, dokumentiere.
Einen noch größeren Glückstreffer landete ich, als ich am frühen Morgen mit dem Auto die Wohnsiedlung verließ, in der das Appartement meines Bekannten liegt. Schon nach der zweiten Kreuzung kam ich an einer Gruppe von fünf, sechs jungen Männern vorbei, die mit Stöcken auf eine am Boden liegende Person einprügelten. Als ich mich mit meinem Wagen näherte, ließen sie von ihm ab und waren im Nu auf und davon. Ich hielt an, zögerte jedoch auszusteigen. Die Vernunft gebot mir, mich nicht in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen. Doch dann wurde ich gewahr, dass der Mann am Boden verzweifelt nach Luft zu ringen schien. Das war mir vertraut. Ich stieg aus und ging auf ihn zu, sah seine Hand auf seiner Hosentasche zucken und verstand augenblicklich. Ich durchsuchte seine Taschen, und tatsächlich fand ich darin eine Dose Asthmaspray, das ich ihm sofort verabreichte. Es wirkte, und seine Verkrampfung ließ nach.
Hatte ich damit nicht meine Schuldigkeit getan? Aber mit einem Mal überkam mich die Neugier zu wissen, wie es diesem jungen Mann, der dieselben Medikamente nehmen musste wie ich, im Leben sonst so erging. Diese unbändige Neugier verspürte ich nicht zum ersten Mal. Man könnte sagen, dass mein gesamter Lebensweg davon geprägt ist. Ich beschloss, mich um diesen Menschen zu kümmern.
Ein Berg von Mensch! Ich zog, zerrte und schob mit all meiner Kraft, bekam ihn schließlich in meinen Wagen und brachte ihn ins Peking University Third Hospital. Ich befürchtete, er könnte ohne mein Wissen entlassen werden und auf Nimmerwiedersehen verschwinden, daher besuchte ich ihn am nächsten Morgen gleich wieder, doch er war noch immer nicht bei Bewusstsein. Als er am Nachmittag zu sich kam, bat er mich mit mühsam hervorgepressten Worten, für ihn ein paar Einkäufe zu tätigen und sie zu seinem Haus in Huairou zu bringen. Offenbar kam es ihm gar nicht in den Sinn, dass ich mich mit dem Geld aus dem Staub machen könnte. Ich beschloss, zu tun, wie mir geheißen, und wie bei einer Partie Stud Poker einfach die nächsten Karten abzuwarten. Erst am dritten Tag war ich mir sicher: Ich hatte recht gehabt. Er erinnerte sich! Zhang Dou, den ich als Bruder behandeln will, und noch brüderlicher als einen leiblichen Bruder, ist der erste mir verwandte Mensch, denn ich in zwei Jahren der Suche finden konnte. Alle anderen sind nicht wie ich.
Anfangs dachte ich, sie wollten einfach nicht über diesen Monat reden. Später stellte ich fest, dass sie sich ganz falsch an die Geschehnisse erinnerten,
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