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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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Aufpasser würde sich nicht die Mühe machen, ihr zu folgen, da sie ja gerade erst die Miete gezahlt hatte und nach dem Einkauf sicher gleich wiederkommen würde. Selbst wenn er ihr folgte, dann doch bloß bis zum Eingang des Jingkelong-Supermarktes, sodass sie ihn über den zweiten Ausgang leicht abschütteln konnte. Sie tat weiterhin so, als ahne sie nichts von ihren Verfolgern, erzählte sie mir, deshalb waren die beiden nicht besonders wachsam.
    Unterdessen wurde mir ganz mulmig. Vielleicht bildete sie sich das alles bloß ein, ihre Nerven spielten verrückt und alles war nur übertriebene Vorsicht. Es war aber auch gut möglich, dass sie tatsächlich observiert wurde. Im kleinen Park am Kunstmuseum hatte ich es mit eigenen Augen gesehen, oder etwa nicht? Ich hatte damals nicht einmal versucht, sie darauf aufmerksam zu machen. Die Frage war jetzt: Hatte Xiaoxi ihre Beschatter wirklich abgeschüttelt? Falls nicht … Ich erinnerte mich wieder an meine Furcht, dass ihre Schwierigkeiten womöglich sehr bald meine eigenen sein könnten.
    »Bist du sicher, dass dir niemand gefolgt ist?«, fragte ich.
    Xiaoxi machte eine abrupte Drehung um einhundertachtzig Grad, sah sich kurz um und sagte dann mit unverhohlenem Stolz: »Sieh doch selbst, niemand da!«
    Die breite Xindong Road, auf der wir standen, lag menschenleer da. Ich schämte mich. Xiaoxi hatte so viel auf sich genommen, nur um sich mit mir zu treffen, und alles, woran ich denken konnte, waren die Schwierigkeiten, die es mir einbringen könnte. Aber wie sollte ich mich nicht um mein ruhiges, geordnetes Leben sorgen?
    »Ist was?«, fragte Xiaoxi. »Keine Sorge, dir passiert schon nichts.«
    Wir standen noch immer auf der Straße. »Xiaoxi, was werden die bloß mit dir machen, wenn du zurückkommst?«, fragte ich.
    »Einmachen!«, scherzte sie. »Oder ich sehe zu, dass ich Peking noch heute Nachmittag verlasse.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie lächelte mich an: »Wollen wir nun etwas essen oder nicht?«
    Wir liefen zu Fuß zum Happy Village II.
    Es war warm und die blühenden Schnurbäume erfüllten die Frühlingsluft mit einem intensiven, berückenden Duft. Ich fühlte mich auf einmal so liebestrunken, dass ich beinahe weinen musste. Xiaoxi, wollte ich rufen, lass uns zusammen glücklich sein, hör auf, mit der Welt zu hadern, lass uns zusammen das Leben genießen!
    Aber ich traute mich nicht. Noch fehlte mir die nötige Entschlossenheit.
    Zu Hause angekommen, fing Xiaoxi sogleich in meiner kleinen Küche an zu hantieren, während ich daneben stand und versuchte, mich irgendwie nützlich zu machen. Sie hatte ihre Jacke ausgezogen. Die Haut ihres rechten Oberarmes war uneben und gewellt – Narben von ihrem Zusammenstoß mit dem Militärlaster damals. Ich hatte mich inzwischen wieder etwas beruhigt und dachte bei mir: Wie fehlerhaft diese tolle Frau doch ist.
    »Chen, unsere alten Freunde haben sich alle verändert«, sagte sie unvermittelt, während sie gerade den Chinakohl klein schnitt.
    Diesmal fragte ich sie: »Inwiefern verändert? Was meinst du genau?«
    Sie hielt mit dem Schneiden inne und überlegte: »Sie sind alle so … zufrieden. Bist du zufrieden, Chen?«
    Ich spürte, dass sie mich testen wollte, also fragte ich zurück: »Warum bist du unzufrieden, Xiaoxi?«
    Da waren wir, beide über fünfzig, und unterhielten uns tatsächlich über so ein Thema, als wären wir Mitte zwanzig.
    Xiaoxi stutzte kurz, dann antwortete sie ebenfalls mit einer Gegenfrage: »Chen, erinnerst du dich an die Gefühle, die wir damals hatten? Du warst doch dabei, ’89 in unserem ersten Laden in Wudaokou und in den Neunzigern im neuen Laden – worüber haben wir damals diskutiert? Warum waren wir so wütend, worüber haben wir gestritten, was waren unsere Ideale? Erinnerst du dich daran, Chen?«
    Sanft fragte ich sie: »Warum kannst du es nicht vergessen, Xiaoxi? Wir leben jetzt in einer ganz anderen Zeit.«
    Sie blickte mich verloren an. Nach einer längeren Pause sagte sie: »Ich habe schon zu viel vergessen. Während der langen Zeit in der Klinik habe ich so viele Erinnerungen verloren. Ich will nicht noch mehr vergessen.«
    Ich wollte gerade etwas sagen, aber Xiaoxi war nicht mehr nach reden zumute. »Das Essen kocht sich nicht von alleine«, sagte sie und begann konzentriert, das restliche Gemüse zu schneiden. Ich wusste, dass ich sie verloren hatte.
    Beim Essen trug sie zwar weiterhin ein Lächeln im Gesicht, aber ihr Urteil über mich war gefällt: Ich

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