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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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längst niemand mehr danach umdrehte. Ich warf einen schnellen Blick auf das Nummernschild: kein besonderes Kennzeichen, wahrscheinlich ein Geschenk.
    He Dongsheng stieg ein und startete den Motor. Dann holte er eine Art Sensor aus der Jackentasche, der aussah wie eine Fernbedienung, und drückte auf einen Knopf, woraufhin erst ein grünes Lämpchen aufblinkte und drei Sekunden später zwei weitere. »Alles in Ordnung«, sagte er und ließ die Fernbedienung wieder in seiner Innentasche verschwinden.
    Ich traute mich nicht nachzufragen, aber wider Erwarten erläuterte er von sich aus: »Eine Schutzmaßnahme, damit mich niemand abhört oder observiert.«
    »Wer sollte Sie denn abhören oder observieren?«, entglitt es mir.
    »So ziemlich jeder. Zentrale Disziplinarkommission, Staatsschutz, Staatssicherheit, Generalstab … Wer weiß das schon, bei all den Institutionen und all den Leuten, die da rumspringen? Jeder hat seine Widersacher. Ich lasse Leute überwachen und jemand anderes lässt mich überwachen; ich habe was gegen dich in der Hand, du was gegen mich. Über jeden gibt es Akten, so läuft das Spiel nun mal.«
    Ich hatte wieder einmal etwas dazugelernt. Selbst die Partei- und Staatsführung war nicht vor Bespitzelung gefeit. Ich gab mich jedoch weltläufig und tat, als wäre mir das alles längst bekannt. Ich wollte gerade betont lässig den Sicherheitsgurt anlegen und meinen Sitz einstellen, als ich wohl einen falschen Hebel erwischte, und mich urplötzlich mitsamt des Sitzes hintenüber gekippt in der Horizontalen wiederfand. He Dongsheng half mir eilig hoch und erklärte, der Wagen sei so umgebaut, dass sich die beiden Vordersitze zu einer Liegefläche umklappen ließen, auf der man sich bei Bedarf hinlegen konnte. Er erkannte sofort, wie viel Raum für Fantasie diese Bemerkung bot, suchte sichtlich nach einer Erklärung, schwieg dann jedoch, um sich nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen. Ich verzichtete auf Nachfragen.
    Er erkundigte sich nach meiner Adresse. Happy Village II, kannte er gut.
    Ob er noch Kontakt zu anderen Teilnehmern aus dem Xinghua-Camp hatte, fragte ich. Nein, habe er nicht, war seine knappe Antwort.
    Ich dachte schon, das Gespräch sei beendet, da sagte er: »Shui Xinghua war ein Unternehmer mit Herz. Aber wissen Sie, was mich das Camp vor allem gelehrt hat?«
    »Nein, was denn?«
    »Erst dort habe ich gemerkt, dass die intellektuellen Eliten in China, Hongkong, Macao und Taiwan völlig anders denken. Wissensstruktur, Problembewusstsein, Ausdrucksweise, Geschichtsverständnis und Weltanschauung – in allem sind sie grundverschieden. Nicht nur ihr versteht uns nicht, wir verstehen euch ebenso wenig. Und ehrlich gesagt: Wir wollen es auch gar nicht. Ich meine, einander wirklich verstehen. Es ist ohnehin fast unmöglich. Das habe ich erst im Xinghua-Camp kapiert. Und was für die geistige Elite gilt, trifft auf die einfachen Leute erst recht zu. Eine überaus nützliche Erkenntnis für meine spätere Arbeit. Sie hilft mir sehr, wenn ich mich mit Taiwan oder Hongkong beschäftige.«
    Ich hatte lange in jeder der beiden Regionen gelebt, deshalb wusste ich nur zu gut, wovon er sprach. Bemerkenswert, dass ihm ein Besuch im Xinghua-Camp gereicht hatte, um zu dieser Einsicht zu gelangen.
    »Die Eliten in Taiwan und Hongkong sind in den letzten Jahren sicher zahmer geworden und nehmen sich jetzt ein Beispiel am Festland«, warf ich ein.
    Seine Antwort war knapp und deutlich: »Außenstehende können China nicht wirklich verstehen.«
    Wahrscheinlich war er zu schnell gefahren, jedenfalls hielt uns wenig später die Polizei an. Dieser arme Verkehrspolizist weiß wohl nicht, was gut für ihn ist, dachte ich. Wie würde He Dong-sheng auf so etwas reagieren? Ich sah, wie er sein Handy hervorholte, während er langsam an den Straßenrand fuhr. »Worker’s Stadium East, kurz vor der Kreuzung Xindong Road. Ja.«
    Das war alles, was er sagte. Ein sehr beleibter Beamter kam ans Seitenfenster und verlangte nach He Dongshengs Papieren. Der regte sich nicht. Als der Polizist seine Aufforderung wiederholte, sagte er, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen: »Abwarten.« Der Polizist war kurz davor, die Fassung zu verlieren, als sein Telefon klingelte. Kaum hatte der Polizist den Anruf angenommen, startete He Dongsheng den Motor und fuhr los, ohne den Beamten weiter zu beachten. »Meine Sekretärin kümmert sich darum«, erklärte er.
    Bei einem an Schlaflosigkeit leidenden Chef, der nachts ziellos

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