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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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stehen?« Die Stimme klang ungeduldig.
    »Wer ist da überhaupt?«, rief ich.
    »Ich bin’s!«, war die Antwort.
    Es war Wen Lans Stimme.
    »Eine Bekannte«, erklärte ich Xiaoxi.
    Sie öffnete die Tür und flüsterte: »Ich verstecke mich auf dem Treppenabsatz, dann lässt du sie rein.«
    Das ist nicht nötig, dachte ich, behielt es jedoch für mich. Xiaoxi war bereits zur Tür hinausgeglitten.
    Ich drückte den Knopf und hörte, wie unten die Haustür aufsprang. Xiaoxi versteckte sich auf der Treppe zum nächsten Stockwerk. Das Haus hatte keinen Aufzug, ich hörte das Klackern hoher Absätze, das eilig die Stufen bis zu meiner Wohnung im vierten Stock hochkam.
    Das Erste, was sie sagte, war: »Warum brauchst du einen halben Tag, um die Tür aufzumachen?«
    Ich blieb im Türrahmen stehen, sodass sie nicht hereinkommen konnte. »Weshalb bist du hier?«
    »Jemand war gemein zu mir. Ich bin verletzt. Ich brauche jetzt eine starke Schulter!«
    Du hältst mich wirklich für deinen ewigen Lückenbüßer, dachte ich.
    Sie war sichtlich irritiert, Tränen funkelten in ihren Augen. Sie schluchzte: »Warum siehst du mich so böse an? Du warst noch nie böse zu mir! Du hast gesagt, du würdest dich um mich kümmern!«
    Was Xiaoxi sich jetzt wohl dachte? »Komm rein«, sagte ich eilig.
    Sobald Wen Lan eingetreten war, schloss ich die Tür. Ich wusste, dass Xiaoxi die Gelegenheit nutzen würde, um sich davonzumachen, mit ihrer eigenen Interpretation meines Verhältnisses zu Wen Lan.
    »Was ist denn mir dir? Warum guckst du so dämlich?«, fragte Wen Lan.
    Wut packte mich: »Wie hast du herausgefunden, wo ich wohne?«
    »Dongzhimenwai Road, Happy Village II. Ich brauchte bloß zu fragen, wo der Schriftsteller aus Hongkong wohnt, da hat der Pförtner mich hergeführt.«
    »In deinen Augen bin ich wohl wirklich der ewig bereitstehende alte Trottel!«
    »Was sagst du da?«, fragte sie ungläubig.
    »Ich will dich nicht mehr sehen«, sagte ich kühl. »Nie mehr.«
    Wen Lan schien ihren Ohren nicht zu trauen, ihre Stimme war mit einem Mal eine Oktave höher: »Was?«
    Meine Wut war abgeebbt. »Geh und lass mich in Ruhe«, sagte ich nur.
    »Was sagst du da?«
    »Ich sagte: Mach, dass du fort kommst!«, antwortete ich beherrscht und zeigte zur Tür.
    Erst jetzt schien Wen Lan meine Worte wirklich zu begreifen. »Gut, du spielst also den Herzlosen. Das merke ich mir! Du wirst schon noch sehen, was du davon hast!«
    Sie ging zur Tür, drehte sich noch einmal um und zeigte mir wutentbrannt den Mittelfinger. Langsam hob ich den meinen und erwiderte die Geste.

Heaven and Earth
    Ich hätte Xiaoxi nicht gehen lassen dürfen, ihr meine Gefühle früher offenbaren sollen.
    Jetzt bereute ich meine Zurückhaltung.
    Es vergingen ganze zwei Wochen ohne ein Lebenszeichen von ihr. Meine Mails an freundinauswudaokou blieben unbeantwortet. Eine Suche im Internet ergab haufenweise Informationen über Wudaokou und über Freundschaft, aber keine Spur von Xiaoxi. Beim letzten Pseudonym nurernstgemeintesOK hatte das ganz anders ausgesehen. Sie wusste inzwischen, dass sie unter Beobachtung stand, und benutzte jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach ein Pseudonym, das keine Rückschlüsse mehr auf ihre E-Mailadresse zuließ – oder umgekehrt. Gut möglich, dass sie dieses Postfach eigens zur Kontaktaufnahme mit mir eingerichtet hatte. Hinter welchem Namen mochte sie sich jetzt wohl verbergen?
    Ich war zu langsam gewesen. Nun, da Xiaoxi fort war, wurde mir mit jedem Tag deutlicher bewusst, wie sehr ich mich in sie verliebt hatte. Für sie war ich bereit, in die gute Hölle hinabzu-steigen.
    Das merkwürdige Hochgefühl der letzten zwei Jahre war schlagartig verschwunden. Meine Sehnsucht nach Liebe verhinderte, dass ich weiterhin einfach glücklich und zufrieden war.
    Eines Tages – die Luft war voller herumwirbelnder Weidenkätzchen und den Blüten der Granatapfelbäume – ging ich zu Dongniang. Mit hängendem Kopf schleppte ich mich geradewegs in ihr Schlafzimmer, zog Jacke und Schuhe aus und legte mich aufs Bett.
    Dongniang begann, sich langsam zu entblößen. »Komm, mein alter Freund, zieh dich aus. Heute ist es kostenlos.«
    »Wieso kostenlos?«, fragte ich.
    »Heute ist das letzte Mal«, antwortete sie.
    »Was heißt das, ›das letzte Mal‹?«
    »Ich gehe weg, raus aus Peking.«
    Ich setzte mich auf und wiederholte betrübt: »Du gehst weg?«
    Dongniang sah mich an und musste lächeln: »Nicht weinen, mein Schätzchen. So traurig habe ich mein

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