Die fetten Jahre
Schätzchen ja noch nie gesehen. Ist mein kleiner Strahlemann unglücklich?«
»Es gibt da etwas, was mich bedrückt.«
»Komm, Dongniang nimmt dich in den Arm.« Sie legte ihre Arme um mich.
»Dongniang, lass uns ein wenig reden«, sagte ich.
Sie ließ von mir ab und musterte mich einen Moment, bevor sie vorschlug: »Ich kann meine Tarot-Karten holen und dir etwas über deine Zukunft erzählen.«
Sie glitt vom Bett und stand auf. Ich mochte es nicht, sie Dongniang zu nennen, für mich war sie immer noch Xiaodong, die kleine Miss Dong, so wie früher im Heaven & Earth.
Seit sie wusste, dass ich Schriftsteller war, ließ sie sich von mir Bücher empfehlen. Sie las gerne und hatte bereits Chiung Yao, Yan Qin, Cen Kailun, Yi Shu und Zhang Xiaonan gelesen. Also hatte ich ihr Übersetzungen vorgeschlagen, angefangen mit Jane Austen, deren sechsbändiges Erzählwerk sie komplett verschlang, bis sie es besser kannte als ich. Danach hatte sie mit zeitgenössischer Belletristik begonnen. Als ich sie einmal fragte, welches ihre Lieblingsromane waren, nannte sie Die Brücken von Madison County und Chiung Yaos Nach vielen roten Sonnenuntergängen. Wir hatten zwar nicht denselben Geschmack, aber allein weil sie wie ich Romane las, entstand eine gewisse Verbundenheit. Später war sie dazu übergegangen, ihre Kunden bei sich zu Hause zu empfangen. In all den Jahren, die ich sie schon besuchte, war sie für mich jedoch immer die kleine, Bücher lesende Xiaodong geblieben. Bis ein paar taiwanische Kunden eine Zeit lang Pokerabende bei ihr veranstalteten, an denen ich auch ein paar Mal teilnahm. Sie rauchten Zigarren und riefen Dongniang hier, Dongniang da, bis aus meiner kleinen Xiaodong die reife Dongniang geworden war.
Sie hatte ihre Tarot-Karten geholt und setzte sich wieder aufs Bett. Ich nahm die Bücher auf ihrem Nachttisch in Augenschein: die Festland-Ausgabe von Luqiaos Lied ohne Ende und Das goldene Notizbuch von Doris Lessing. Scheinbar hatte sie immer noch eine Vorliebe für dicke Wälzer. »Was möchtest du wissen?«, fragte sie.
Ich antwortete mit dem Naheliegendsten: »Wo ist die Frau, die ich liebe?«
Doch als sie gerade anfangen wollte, überlegte ich es mir anders: »Nein, Moment, frag das lieber nicht.« Es war weniger das Vertrauen in ihre Künste als Hobbywahrsagerin denn die Überlegung, dass, falls sie mir einen Ort nennen sollte, ich trotz allem vor der Entscheidung stand, dort zu suchen oder nicht. Ich wollte mein Schicksal ungern in ihre Hände legen. »Vor mir kreuzen sich zwei Wege«, änderte ich meine Frage, »der eine garantiert mir ein geregeltes und bequemes Leben, das mir eigentlich gar nicht schlecht gefällt, in dem ich mich jedoch immer etwas unausgefüllt fühlen werde; auf dem zweiten Weg warten Hindernisse auf mich – Hindernisse, die sich vielleicht sogar als unüberwindlich erweisen werden, doch möglicherweise finde ich auf diesem Weg wahre Liebe und größtes Glück. Für welchen Weg soll ich mich entscheiden?« Eine sehr tarotmäßige Frage.
Sie deckte ein paar Karten auf und legte sie in zwei Reihen. Der erste Weg sei von Ruhe und Reichtum geprägt, während auf dem zweiten Widerstände warteten, sagte sie, viele Unwägbarkeiten, aber auch Liebe. Bis hierhin war ihre Antwort nichts anderes als eine Wiederholung meiner Frage.
Dann sagte sie: »Die Karten zeigen Veränderung. Du bist lange auf dem ersten Weg gewandelt und möchtest den zweiten einschlagen. Geh nur, sonst wirst du immer weiter mit dir hadern.« Es war ungefähr das, was ich hören wollte.
»Ich danke dir, Xiaodong«, sagte ich. »So nenne ich dich viel lieber: Xiaodong.«
»Chen, seit zwei Jahren habe ich dich nicht mehr von einer so … echten Seite gesehen«, sagte sie.
»Echt? Heißt das, ich war sonst nicht echt?«
»Du warst wie alle anderen, immer so, so …«
Mein Herz schlug mit einem Mal schneller: »Glücklich?«
»Genau! Vor zwei Jahren fing es an – du, meine anderen Kunden, überhaupt alle um mich herum waren auf einmal glücklich bis zum Anschlag!«
»Die Leute haben sich auf einmal verändert?«, wiederholte ich Xiaoxis Worte.
»Kann man so sagen.«
»Aber du bist nicht verändert, nicht wahr? Warum?«
Sie schwieg einen Moment. Dann antwortete sie: »Chen, wir kennen uns jetzt seit zehn Jahren. Ich kann offen mit dir reden?«
Ich nickte.
»Du weißt, dass ich Drogen nehme? Ich bin eine Junkiebraut, wie man in Hongkong wohl sagen würde.«
»Ich wäre nie auf die Idee gekommen. Du hast
Weitere Kostenlose Bücher