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Die fetten Jahre

Die fetten Jahre

Titel: Die fetten Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Koonchung Chan
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gehörte auch zu »den anderen«.
    Vor der Mahlzeit hatte sie noch ein Medikament eingenommen und wie beiläufig erklärt, dass es sich um ein Antidepressivum handelte. »Es wirkt sowieso nicht. Die verbleibenden Pillen nehme ich noch, dann setze ich es ab.«
    Ich war voll des Lobes für ihre gebratenen Kartoffelstreifen mit Chili und den in Essig sautierten Kohl. Das nächste Mal würde sie Reisauflauf machen, sagte sie. Ihre Worte klangen nach Ab­schied.
    Am Esstisch unternahm ich einen letzten Anlauf, sie doch noch zurückzugewinnen. Ich versuchte, ihre Gedankengänge nachzuvollziehen. Sie hatte das Gefühl, dass die Menschen ringsum anders waren als sie, dass sie als Einzige noch Wut zu empfinden schien. Behutsam startete ich einen Versuch: »Weißt du, Xiaoxi, manche Menschen sind gut darin, sich zu verstellen. Sie verstellen sich, um ihr wahres Ich zu schützen.« Ich sah ihre Augen kurz aufblitzen und wusste, dass ich den richtigen Ton getroffen hatte.
    »Irgendwann verlernen diese Menschen, Wirklichkeit und Täuschung auseinanderzuhalten.« Xiaoxi hörte mir zu.
    Ich sponn diesen Faden weiter, mich von Satz zu Satz voran-hangelnd: »Lu Xun hat einmal geschrieben, dass es Menschen gibt, die einer guten Hölle hinterhertrauern. Sie tun das nicht, weil es neben der guten Hölle noch eine weitere, sehr viel schlimmere Hölle gibt, sondern weil sie vor der Wahl stehen zwischen der guten Hölle und einem falschen Paradies. Wie entscheidet man in so einer Situation? Viele Menschen werden sich sagen: Ein falsches Paradies ist immer noch besser als eine gute Hölle! Am Anfang ist ihnen noch bewusst, dass es kein echtes Paradies ist, doch haben sie nicht den Mut oder nicht den Antrieb, die Wahrheit aufzudecken. Mit der Zeit vergessen sie sogar, dass es ein falsches Paradies ist, nehmen es in Schutz und erklären es zum einzig wirklichen Paradies. Aber es wird auf der Welt immer ein paar Menschen geben, womöglich nur eine winzig kleine Minderheit, die sich für die gute Hölle entscheiden, ganz gleich, wie schlimm es dort sein mag. Denn wenigstens sind sich die Insassen dort im Klaren darüber, dass sie sich in der Hölle befinden.«
    Ich wusste auch nicht genau, was ich damit sagen wollte, fand aber, dass es durchaus Sinn zu ergeben schien. Xiaoxi war ganz Ohr. Bei einem älteren und einigermaßen kultivierten Gegenüber kam es immer gut an, wenn man Lu Xun auspackte. Zumindest hatte ich mit meinem Vortrag die Distanz zwischen Xiaoxi und mir ein Stück verringert.
    Sie dachte lange nach, bevor sie fragte: »Du meinst, ich hänge zu sehr an der guten Hölle und weigere mich deshalb, das falsche Paradies zu akzeptieren?«
    »Ich sage bloß, dass wir immer die Wahl zwischen zwei Alternativen haben«, wich ich aus.
    »Wofür würdest du dich entscheiden: für die gute Hölle oder das falsche Paradies?«, fragte sie.
    Sie war auf den Punkt gekommen, das war die Gretchenfrage. Jetzt war größtmögliches Fingerspitzengefühl gefordert. Ich wollte die Distanz zwischen uns noch weiter abbauen und versuchte, mich möglichst vage auszudrücken: »Gegebenenfalls würde ich möglicherweise versuchen, über die gute Hölle nachzudenken.«
    Ein Lächeln machte sich auf Xiaoxis Gesicht breit. Hätte ich neben ihr gesessen, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt gewesen, meinen Arm um sie zu legen.
    Da sagte sie: »Chen, darf ich dich kurz in den Arm nehmen?«
    Was für eine Frage! Ich ging zu ihr und wir umarmten uns innig.
    »Willkommen in der guten Hölle«, sagte sie.
    Lass uns zusammen sein, wollte ich sagen, doch kurz bevor die Worte meine Lippen passierten, hielt ich sie zurück.
    Die Türglocke schrillte.
    Xiaoxis Körper versteifte sich augenblicklich. Ich ließ sie los. Sie sind ihr gefolgt, dachte ich, diesmal gibt es kein Entkommen.
    Möglichst gefasst schritt ich zur Eingangstür. Als ich mich nach Xiaoxi umsah, stand sie noch immer wie angewurzelt da und hielt den Atem an.
    Ich bellte missmutig in die Gegensprechanlage: »Wer ist da?«
    Eine verschreckte Männerstimme war zu hören: »Ähm … Äh … Herr Chen?«
    Xiaoxi zog hastig ihre Jacke an, griff die Stofftasche und stellte sich neben mich.
    Ich rief in die Sprechanlage: »Was wollen Sie?«
    »Einen Moment bitte, Herr Chen …« Der Mann entfernte sich scheinbar von der Tür.
    »Gibt es noch einen anderen Ausgang?«, fragte Xiaoxi. Ich schüttelte den Kopf.
    Nun meldete sich eine Frauenstimme: »Chen, jetzt mach schon auf! Was lässt du mich hier vor der Tür

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