Die fetten Jahre
durch die Gegend fuhr, war seine Sekretärin es sicher gewohnt, nach Mitternacht angerufen zu werden und solche Dinge für ihn geradezubiegen. Ein ganz schön anstrengender Job.
He Dongsheng verfiel wieder in Schweigen. Schade eigentlich, denn im Grunde hörte ich gerne zu, wenn er seine Meinung zu großen Themen kundtat. Um ehrlich zu sein: Mir war dieser schlaflose Staatsmann gar nicht mal so unsympathisch.
Freundin aus Wudaokou
Der 1. Mai war bereits vorüber, als ich eines Morgens meinen Computer einschaltete und eine E-Mail von freundinauswudaokou vorfand. Normalerweise löschte ich Mails von unbekannten Absendern ungelesen, um mir keine Viren einzufangen, aber in letzter Zeit sah ich mir jede einzelne von ihnen an. Die Freundin aus Wudaokou war tatsächlich Xiaoxi.
Sie wollte sich am Eingang des Bauernmarktes südlich vom Arbeiterstadion mit mir treffen.
Ich ging öfters dorthin, wenn mir die Laune nach einem kleinen Einkaufsbummel stand. Die Jahreszeiten hier im Norden waren sehr ausgeprägt und jede Saison hatte ihre eigenen Obst- und Gemüsesorten. Auf dem Markt sah man das am deutlichsten, und ganz abgesehen davon waren die Waren hier frischer als im Supermarkt. Ein Gang über den Markt gab mir zudem das Gefühl, mit Menschen in Kontakt zu kommen. Das ließ sich auch gar nicht vermeiden, denn dort herrschte stets ein großes Gedränge; stand man im Weg, so bekam man umgehend Ellbogen und Schultern der rüstigen Kundschaft zu spüren. Schließlich hatte hier jeder beide Hände voll mit seinen Einkäufen.
Ich war nervös. Xiaoxi war bereits über eine halbe Stunde zu spät. Die Pekinger Stadtverwaltung war übertrieben streng und schloss den Markt bereits um zehn Uhr vormittags. Es blieben nur noch zehn Minuten bis dahin. Ich schimpfte innerlich gerade auf die herzlosen Bürokraten, die sich nicht im Geringsten um die Bedürfnisse der einfachen Leute scherten, als Xiaoxi hinter mir auftauchte und mich mit Namen rief.
Ich drehte mich um und sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln. »Da bist du!«, freute ich mich. »Da bin ich«, sagte sie.
Sie schwenkte eine leere Stofftasche in der Hand: »Ich geh noch kurz einkaufen, warte hier auf mich.«
»Nein, ich begleite dich«, sagte ich schnell.
Es waren die letzten zehn Minuten vor Marktschluss und der Menschenandrang hatte seinen Höhepunkt erreicht. Ich blieb dicht hinter Xiaoxi, hielt an, wenn sie anhielt, ging weiter, wenn sie sich weiterschob. Ich war nah bei ihr, sog ihren Duft ein, während sie sich nach Preisen erkundigte, mit Händlern feilschte, Ware auswählte und bezahlte, Wechselgeld einsteckte und dann, Schultern und Ellbogen einsetzend, auf den nächsten Stand zusteuerte. So vergingen die zehn Minuten wie im Flug und in einem Gefühl der Selbstvergessenheit, wie ich es schon sehr lange nicht mehr empfunden hatte.
In Ihrer E-Mail hatte Xiaoxi geschrieben, dass sie uns bei mir etwas kochen wolle. Ich konnte es kaum erwarten.
Als wir den Markt verließen, sagte sie: »Es gibt heute bloß Gemüse und Obst.«
»Kein Problem!«, sagte ich.
»Reis hast du doch?«
»Hab ich!«
Normalerweise hatte ich keinen. Aber nach Xiaoxis Mail hatte ich bei Carrefour Reis, Öl, Gewürze sowie etwas Fleisch besorgt und bei der Gelegenheit auch meine Kochutensilien noch ein wenig ergänzt. Ich hatte mir gedacht, dass Xiaoxi das Gemüse auf dem Markt kaufen wollte.
»Ich hoffe, ich habe dich nicht zu lange warten lassen?«, fragte sie.
»Kein Problem«, sagte ich.
»Ich musste erst noch meine Aufpasser abschütteln.« Ihr Tonfall veränderte sich, als sie das sagte.
Erst jetzt erfuhr ich, wie viel Vorbereitung unser Treffen erfordert hatte. Zunächst hatte sie eine Weile alle möglichen Wohnungen besichtigt, als ob sie vorhätte umzuziehen. Für heute Morgen hatte sie sich dann mit dem Vermieter einer kleinen, möblierten Plattenbauwohnung verabredet und auch gleich eine Kiste voll Sachen mitgebracht. Sie zahlte die Miete im Voraus und verließ dann mit ihrer Einkaufstasche in der Hand das Haus, als wolle sie im Supermarkt ein paar Besorgungen machen. Einer ihrer beiden Beschatter würde ihre Abwesenheit nutzen, so ihr Kalkül, um zum Vermieter zu gehen und die neue Wohnung zu verwanzen. So war es auch bei ihrer alten Wohnung gewesen. Ihr Vermieter war ihr gegenüber von einem Tag auf den anderen ganz merkwürdig gewesen und das hatte sie misstrauisch werden lassen. So fand sie überhaupt erst heraus, dass man sie beschattete und belauschte. Der andere
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