Die fetten Jahre
hatte ihm wohl wirklich etwas bedeutet, er hatte echten Liebeskummer.
Der Film spielte in der Zeit nach dem Zerwürfnis mit der Sowjetunion. Der erste Frühling der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, eine Marinewerft ist in zwei Lager gespalten: Die einen treten dafür ein, in Eigenregie und ohne Hilfe von außen ein Kriegsschiff der Seeadler-Klasse zu entwerfen; die andere Gruppe will mit Hilfe ausländischer Technologie und unter Anleitung ausländischer Experten ein Schiff der Fliegender-Fisch-Klasse bauen und damit also die Unterlegenheit der eigenen Technologie eingestehen. Die Seeadler-Fraktion besteht aus Arbeitern und Ingenieuren mittleren Rangs, ihnen gegenüber stehen Werksleitung und hochrangige Fachleute, die wie zu Anfangszeiten der Volksrepublik alles anbeten, was aus dem Ausland kommt. Zwischen den beiden Lagern stehen ein unentschlossener junger Student sowie der stets kluge und umsichtige Sekretär des Arbeiterkomitees. Der Streit währt eine Weile, doch im Frühling des nächsten Jahres verlässt ein erfolgreich fertig-gestelltes Seeadler-Schiff die Werft, und damit ist klar, wer am Ende Recht behalten hat. Der implizite Vorwurf, das Ausland zu sehr zu verehren, war natürlich eine Anspielung auf Deng Xiaoping.
Jedes Mal, wenn ein Film zu Ende war und das Licht anging, öffnete He Dongsheng die Augen und hielt sogleich einen spontanen Vortrag. Wahrscheinlich hatte er die Filme schon gesehen, als sie damals im Kino liefen.
Er hob an: »Wie doch die Zeit vergeht. Wir haben uns eine ganze Weile im Kreis gedreht, bevor endlich eine neue Epoche in unserer Geschichte anbrach.«
Jian Lin und ich hörten ihm aufmerksam zu.
»Ganz ohne ausländische Technologie geht es nicht, aber man darf sich auch nicht völlig von ihr abhängig machen«, fuhr er fort. »Autarkie ist relativ, nicht absolut. Ein Land von dieser Größe darf sich nicht zu sehr abhängig machen, kann sich aber genauso wenig rundum selbst versorgen. Zu Maos Zeiten war das Lebensniveau niedrig, der Bedarf an Nahrungsmitteln und Konsumgütern ließ sich noch einigermaßen durch Inlandsproduktion decken. Aber sich auch bei Wissenschaft, Technologie, Informationen und Energie alleine versorgen zu wollen, ganz ohne das Ausland und – abgesehen von Geschäften mit Dritte-Welt-Ländern wie Albanien – unter Verzicht auf jeglichen Außenhandel: Das ist der Versuch absoluter Autarkie, der letztendlich zu Lasten der Entwicklung geht. Völlig unnötig. Zum Glück haben wir inzwischen unsere Politik geändert, sozusagen hin zu einer relativen Autarkie. Wir exportieren industrielle Fertigprodukte nach Russland, Angola, Brasilien, Australien oder Kanada und bekommen im Gegenzug Erdöl, Getreide, Mineralien, Holz und sonstige Rohstoffe, von denen wir in China nicht genug haben; mit Europa und Amerika treiben wir ein bisschen gleichberechtigten Handel, kaufen hier ein paar Boeings, dort ein paar Hightech-Produktionsanlagen und stellen ansonsten nach Möglichkeit das meiste selbst her, bauen selbst an, forschen selbst und konsumieren auch selbst, von Kartoffeln über Produkte des täglichen Bedarfs bis hin zu Mobiltelefonen und Autos. Wir sind ein Land mit über einer Milliarde Menschen, wir selbst sind unser wichtigster Absatzmarkt. Die übermäßige Abhängigkeit von den USA ist Geschichte, ebenso wie übertriebener Merkantilismus der Vergangenheit angehört. Dabei schotten wir uns aber nicht mehr völlig ab wie zu Maos Zeiten. Außenhandel gibt es auch weiterhin, aber er macht nicht einmal fünfundzwanzig Prozent unserer Wirtschaftsleistung aus. Das ist relative Autarkie!«
Während er sprach, sprühte er vor Lebendigkeit, doch sobald er geendet hatte, sank er wieder in sich zusammen wie ein Ballon, dem die Luft ausgegangen war. Seine Ansprache für diesen Abend war beendet. Alle drei wandten wir uns stumm unseren Gläsern zu, bis He Dongsheng kurz vor zwölf zur Toilette ging, das Zeichen für den Aufbruch.
»Kann ich Sie mitnehmen?«, fragte er mich, als er wiederkam. Diesmal antwortete ich mit »Ja, gerne«. Ich hatte keine Lust, mit Jian Lin alleine zurückzubleiben und mir seine selbstmitleidigen Litaneien über Wen Lan anzuhören.
Als wir zusammen zur Tiefgarage gingen, entstand eine unangenehme Stille. He Dongsheng sprach nicht, und ich wollte nicht aufdringlich wirken, also lief ich stumm neben ihm her.
Er fuhr einen schwarzen Land Rover. Selbst Importwagen wie seinen gab es auf Pekings Straßen in so großer Zahl, dass sich
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