Die fetten Jahre
versöhnt haben oder wegharmonisiert wurden, stemmte sie sich gegen den Wind, gab nicht für einen Moment ihren einsamen Kampf auf, stand im Internet ungebrochen zu ihrer Meinung, die sie mit starken Argumenten fest zu untermauern wusste. Dieser Prozess hat sie dazu gezwungen, ihre Gedankengänge zu ordnen und sie klar und strukturiert darzulegen, während ihre Gegner irrational argumentieren, die Emotionen ihres Publikums instrumentalisieren, sich einschlägiger Rhetorik, schöner Worte sowie jeder Menge Populismus bis hin zu blanker Aggression bedienen. Je mehr Xiaoxi schrieb, desto beherrschter und überlegter argumentierte sie, desto klarer formten sich ihre Gedanken.
Man sollte sich keinesfalls täuschen und in ihr weiter die junge Gerichtsprotokollantin sehen: aufrecht, aber schwach; oder die liberale Hausdame ihres Salons; oder die arbeits- und planlose Mutter, die nicht einmal ihren Sohn unter Kontrolle bekommt; oder die furchtsame Verwirrte, die bei der geringsten Störung gleich die Flucht ergreift. Sie ist jetzt eine zwar anonym agierende, aber durch ihre Gerechtigkeitsliebe dennoch in der Öffentlichkeit stehende Intellektuelle – auch wenn sie sich selbst nie so sehen würde. Ihr Idealismus ist es, der sie antreibt, ist die Waffe, mit der sie kämpft, die Luft, die sie zum Atmen braucht. Er ist das, was sie liebenswert und lästig zugleich macht.
Gemeinsam leben oder zusammen sterben
Chen blieb drei Tage in Miaomiaos Häuschen. Als das Wochenende kam, fuhr er ins Happy Village II, zog sich frische Kleider an und ging bei Starbucks einen großen Becher Latte trinken. Am Sonntagabend fand er sich wieder bei Jian Lins allmonatlichem Klassikerabend ein. Seit einiger Zeit bestand das Publikum nur noch aus Jian Lin, He Dongsheng und Chen selbst. Eigentlich veranstaltete Jian Lin den Abend inzwischen in erster Linie als Unterhaltung für seinen Cousin, den Staatsmann; Chen war bloß der Anstandsgast. Wenn er nicht mehr käme und die beiden Cousins allein übrig blieben, wäre es ihnen wahrscheinlich peinlich, das Ritual weiterzupflegen. Deswegen fühlte er sich verpflichtet zu erscheinen. Geduldig hatte er Xiaoxi und Fang Caodi erklärt, warum sein Kommen unabdingbar war, und dass er inzwischen fast schon ein Bedürfnis nach He Dongshengs allmonatlichen Spontanvorträgen entwickelt hatte.
Gegeben wurde dieses Mal Straße des Abendrots aus dem Jahr 1981, getrunken ein 89er Lafite. Da Jian Lin auf einer Auktion fünf Kisten davon hatte ersteigern lassen, würden ihre Filmabende wohl noch eine ganze Weile von 89er Lafite begleitet werden – was natürlich keineswegs Anlass zur Klage bot.
Abendrot war in der Gegend um den Abendrot-Tempel in Pekings Chongwen-Distrikt gedreht, heute ganz in der Nähe der zweiten Ringstraße gelegen. Er erzählte vom neuen Leben einiger Durchschnittspekinger zu der Zeit, als die Reform- und Öffnungspolitik gerade erst begonnen hatte – eine Miniaturansicht der gerade entstehenden Marktwirtschaft. Ein Schwindler kam darin vor, der sich als Hongkonger ausgab, im weißen Anzug und mit falschem kantonesischen Akzent. Er log und betrog sich durch die Handlung, erbeutete Reichtümer und eroberte Frauenherzen. Der junge Chen Peisi spielte einen arbeitslosen Jugendlichen, der Enten züchtete und dessen Lieblingssatz »Bye bye Ihnen dann!« war.
Als der Film zu Ende war, zitierte He Dongsheng zunächst ein Gedicht aus der Yuan-Dynastie: »Seht die dichten Ameisenhorden ihre Reihen formen, die wirre Bienenschar ihren Honig fertigen, die surrende Fliegenmeute um das Blut streiten.« Dann sagte er: »Die Marktwirtschaft lässt die Leute selbst aktiv werden. Sie wirkt auf den ersten Blick chaotisch und zuweilen dysfunktional, aber es kommt nur darauf an, die ihr zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten zu durchschauen; man muss wissen, wo der Staat sich nicht einzumischen braucht – und wo er sich unbedingt einmischen muss. Hat uns zwei Generationen harte Arbeit gekostet. Das Rad der Reform und Öffnung musste mühsam gedreht werden, immer weiter, es hat eine Menge Herzblut von uns gefordert. Noch heute träume ich davon und wache mitten in der Nacht schweißgebadet auf …«
Fast hätte Chen laut gelacht. Um Mitternacht lag He Dong-sheng doch noch nicht mal im Bett, dachte er; und selbst wenn, dann wälzte er sich bloß schlaflos herum, wie wollte er da überhaupt Träume haben? Einmal abgelenkt, tat er nur noch so, als höre er He Dongshengs unermüdlicher Rekapitulation von über
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