Die fetten Jahre
jeder sein Hab und Gut mit dem Leben verteidigen musste. Alle wünschten sich nur eines: dass der Staatsapparat endlich eingriff.
Selbst der Optimist Fang befürchtete nun ein landesweites Chaos, wenn die Lage nicht bald besser würde.
Und dann, am achten Tag, dem fünfzehnten Tag nach Neujahr, traf ein kleines Kommando der Volksbefreiungsarmee in dem Dorf, in dem Fang sich aufhielt, ein und wurde unter Jubelrufen empfangen.
Davon hatte er auch gehört, ergänzte Zhang Dou. Am fünfzehnten Tag des neuen Jahres war die Volksbefreiungsarmee auch in Peking einmarschiert und hatte die Ordnung wieder hergestellt. Die Menschen drängten sich am Straßenrand, um den Truppen frenetisch zuzujubeln, am Nachmittag gaben das Amt für Öffentliche Sicherheit, Militärpolizei und Armee gemeinsam bekannt, dass von nun an hart gegen jegliche illegale Aktivitäten vorgegangen wurde. Weil er nicht in Peking gemeldet war, hatte sich Zhang Dou drei Wochen lang im Haus versteckt gehalten und sich nicht vor die Tür getraut.
Xiaoxi fragte sich, ob sie damals wohl auch an der Straße gestanden und die Truppen willkommen geheißen hatte? Dann musste sie wirklich verrückt geworden sein. Wahrscheinlich hatte sie von der neuerlichen Repressionskampagne erfahren, war nach Hause gegangen und tags darauf durchgedreht.
Fang Caodi erzählte ihr, wie nach Beginn der Kampagne jeder verhaftet worden war, der irgendwie verdächtig erschien. Auch ihn habe man verraten und aufs Polizeirevier geschafft, wo ein aus sechs Personen bestehendes Gremium kurzen Prozess mit ihm machen wollte. Dass er noch lebe, verdanke er einzig einer jungen, unbeugsamen Richterin, die mutig auf die Einhaltung des Gesetzes pochte. Und das, obwohl ihre Kollegen sie massiv unter Druck setzten.
An diesem Abend weinte Xiaoxi, als erlebe sie selbst alles noch einmal. Nach der Anti-Kriminalitätskampagne von 1983 und der gewaltsamen Niederschlagung des Studentenprotestes auf dem Platz des Himmlischen Friedens durch die Gewehre und Panzer der Volksbefreiungsarmee 1989 war sie zutiefst schockiert und niedergeschmettert gewesen. Doch jetzt spürte sie wieder neue Lebenskraft in sich. Die Online-Wortgefechte, die sie sich mit den wütenden Jungpatrioten geliefert hatte, die vehemente Verteidigung ihrer Meinung im Internet, der Kampf für die Rechte der Bauern in der Untergrundkirche und nun Fang Caodis Schilderung der jungen Richterin, die nüchtern und entschieden für Gerechtigkeit eingetreten war – all das verlieh Xiaoxi neue und immer stärkere Entschlossenheit. Endlich hatte sie sich selbst wiedergefunden.
***
Fang Caodi und Xiaoxi – wer von den beiden ist wohl radikaler in seinem Idealismus? Es ist Xiaoxi. Der Grund dafür liegt in der Definition des Wortes »radikal«: Es ist das lateinische Wort für »Wurzel«, bedeutet also, dem grundlegenden Wesen einer Sache nachzugehen. Fang Caodi hat schlicht einen starken Gerechtigkeitssinn, der ihn zum Handeln treibt. Hinzu kommt seine Hartnäckigkeit, die ihn unermüdlich nach dem verschwundenen Monat suchen lässt. Xiaoxis Sinn für Gerechtigkeit hingegen ist abstrakter, ideeller. Sie wurde von klein auf im Geiste von Sozialismus und Internationalismus erzogen, die Schlagworte Gleichheit, Gerechtigkeit und brüderliche Solidarität wurden ihr strahlend ins Herz gemeißelt. Sie wusste nichts von der Scheinheiligkeit der Kommunistischen Partei. An der Universität hat sie das nach der Kulturrevolution wieder in den Lehrplan aufgenommene römisch-napoleonische Recht studiert, bevor sie in den achtziger und neunziger Jahren von Werten wie Aufklärung, Demokratie, Wahrheit und Menschenrechten geprägt wurde. Romantik und Rationalismus hinterließen gleichermaßen ihr Brandmal, typisch für den vom Westen beeinflussten Idealismus der damaligen Intellektuellen. Natürlich ist ihr Denken nicht frei von blinden Punkten und unsichtbaren Schranken. Aber vielleicht ist Xiaoxi gerade deshalb die Radikalere von beiden. Radikal unbeirrbar.
Doch was hat Xiaoxi in den letzten Jahren durchhalten lassen, trotz aller Widrigkeiten, trotz ihrer Position am Rande der Gesellschaft? In den achtziger und neunziger Jahren war sie Herrin ihres Intellektuellen-Salons. Sie hatte damals ein offenes Ohr und großes Interesse für die Meinungen anderer Aktivisten, hielt aber auch selbst mit ihren Ansichten nie hinterm Berg, sondern verteidigte sie vehement. Aber während sich die meisten anderen Intellektuellen in den letzten zwei Jahren mit der Regierung
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