Die fetten Jahre
An der Sache war etwas faul. Er und Xiaoxi hatten schon damals gleich zu Beginn der Krise gespürt, dass mehr dahinterstecken musste als Trägheit des Systems.
Xiaoxi erinnerte sich, dass sie den ganzen Nachmittag versucht hatte, befreundete Intellektuelle und Journalisten zu erreichen, um zusammen die Lage zu besprechen und zu überlegen, ob man etwas tun konnte. Aber auch sie alle waren nur damit beschäftigt, Lebensmittel zu horten und sich um ihre Familien zu kümmern; niemand hatte Zeit, die Gesamtsituation zu diskutieren.
Als es Abend wurde, beschlossen Xiaoxi und Madame Song, den Laden zu schließen und nach Hause zu gehen. Auf dem Heimweg bot sich ihnen ein Anblick wie damals nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens oder während der SARS-Epidemie 2003. Nur vereinzelt waren Autos unterwegs. Beide hatten sie die Arme voller Lebensmittel aus dem Restaurant. Plötzlich kam von hinten ein Radfahrer angeschossen und riss Madame Song eine Tüte mit Chinakohl aus der Hand.
Auch am Abend setzten die Gerüchte sich fort, Handyempfang, Internetverbindung und Fernsehsignal wurden immer wieder unterbrochen, und die ganze Nacht hindurch waren die Sirenen von Polizei- und Rettungswagen zu vernehmen; eine Ausgangssperre wurde aber erstaunlicherweise nicht verhängt. In Xiaoxis Siedlung formierte sich daher spontan eine Bürgerwehr.
An die Ereignisse des zweiten Tages konnte Xiaoxi sich auch weiterhin nicht erinnern. Sobald sie es versuchte, bekam sie Schweißausbrüche und ihr wurde übel. Sie wusste nur noch, dass sie eines Abends nach Hause gekommen war, »Es geht wieder los! Es geht wieder los!« geschrien und die ganze Nacht leise vor sich hin murmelnd durchwacht hatte, um dann, früh am nächsten Morgen, im Hof lautstark die Partei, die Regierung, die Nachbarn und die hundsgemeinen Gerichte zu verfluchen. Wenig später war sie in Ohnmacht gefallen, und als sie wieder aufwachte, lag sie bereits in der Psychiatrie. Ihre Mutter hatte ihr all das nach ihrer Entlassung erzählt, sie selbst konnte sich an nichts erinnern. Komischerweise hatte Madame Song wenig später, als Xiaoxi erneut danach fragte, die Geschehnisse ebenfalls vergessen.
Fang Caodi berichtete von den anarchischen Zuständen, die damals eine ganze Woche lang in Guangdong geherrscht hatten.
Während der ersten sechs Tage waren die Menschen zutiefst verängstigt; ständig hieß es, dass andernorts bereits das absolute Chaos ausgebrochen sei. Aber zumindest in den Orten, durch die Fang Caodi kam, sah eigentlich alles ganz ruhig aus – bloß erregte er als Fremder plötzlich überall großes Misstrauen und hatte es schwer, sich durchzuschlagen. Am zwölften Tag nach Neujahr erreichte er das Drei-Länder-Eck von Guangdong, Jiangxi und Hunan, wo er bei einer Bauernfamilie unterschlüpfte. Ihren eigentlichen Höhepunkt erreichte die Krise dann am vierzehnten Tag – zumindest sagten später alle, da sei es am schlimmsten gewesen. In vielen Orten sei es zu Plünderungen gekommen; eine Menge Leute flohen in die Kreisstädte, weil sie gehört hatten, dass man dort sicherer sei. Viele bekamen in diesen Tagen wiederholt die gleiche, anonyme SMS: »Ich habe gerade von ganz oben erfahren, dass die Situation außer Kontrolle geraten ist! Das Chaos ist da! Passt auf euch auf!«
Über Jahre hinweg hatten viele die Frage gestellt, ob in China einmal das ganz große Chaos ausbrechen würde. Ob das Land irgendwann außer Kontrolle geriete. Und von wo es wohl seinen Ausgang nehmen würde. Fang Caodi hatte den Westen des Landes kreuz und quer bereist und sich auch lange genug in Zentralchina und anderswo herumgetrieben. Er hatte den Leuten bis zu diesem Zeitpunkt immer versichert, dass es in China nie zu einer Kettenreaktion kommen würde. Kleinere Vorfälle ja, aber kein alle Gegenden umfassendes Chaos. Unruhen in China seien stets regional begrenzt – sie würden nie das ganze Land auf einmal erfassen.
Aber in jenen sieben Tagen erlebte ganz China die Hölle auf Erden. Ein Tag allein wäre schon schlimm genug gewesen – aber nach sieben Tagen lagen die Nerven blank, die Menschen standen kurz vor dem Zusammenbruch. Sie wussten, dass finstere Gestalten, Gauner und Kleinganoven, nur darauf brannten, endlich zuzuschlagen. Das steigerte die Angst ins Unermessliche. Die Bevölkerung stand am Rande einer kollektiven Hysterie. Es schien, als wäre es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Ausbruch der totalen Anarchie, dem Krieg aller gegen alle, in der ein
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