Die Feuer von Córdoba
er sich nach all den Jahrhunderten endlich ans Abschiednehmen gewöhnt hatte, aber dem war nicht so. Er hätte wohl noch tausend Jahre weiterleben können, und es wäre immer noch das Gleiche. Jedes Mal fühlte er sich, als ob er ein weiteres Stück von sich zurückließ. »Sie ist eine nette, kluge Frau. Meinst du …«
»Wir haben ihr eine Menge zugemutet, Anselmo«, sagte Cosimo, und auch er seufzte ein bisschen. »Aber ich denke, sie wird darüber hinwegkommen.«
Anselmo nahm den Koffer. Er war schwer. So schwer, wie man es bei seiner Größe niemals gedacht hätte. Die Griffe hatten sogar besonders befestigt werden müssen, damit sie überhaupt in der Lage waren, das Gewicht des Koffers zu halten. Der Inhalt bestand aus einer Bleikassette. Fünf Zentimeter dicke Bleiwände schützten die wertvolle und zugleich gefährliche Fracht – einige alte, seltsam verschlüsselte Pergamentseiten sowie zwei Flaschen mit einer smaragdgrünen Flüssigkeit darin.
»Wohin wollen wir fliegen?«, fragte Anselmo, während sie durch die Glastüren gingen. »Immer noch nach Westen?«
»Ja, nach Westen«, sagte Cosimo, und seine Stimme klang seltsam heiser. »Über den Atlantik. Und dort können wir dann …«
Er sprach nicht weiter. Aber Anselmo wusste, was er sagen wollte. Es war so weit. Endlich.
»Komm, mein Freund«, sagte Cosimo und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Unsere Maschine wartet.«
Ja, so wie Giovanna und Teresa, dachte Anselmo. Sie hatten lange warten müssen. Aber die Wartezeit hat jetzt ein Ende.
In den Westen
Anne stand an ihrem Fenster und sah hinaus auf die Grünfläche hinter ihrem Haus. Dienstag, der 2. September. Das Laub der Bäume schimmerte im Licht der Sonne. Es war ein Sommertag , wie Hamburg ihn eher selten erlebte – strahlend blauer Himmel, angenehme sechsundzwanzig Grad, die durch eine leichte frische Brise gemildert wurden. Es war traumhaft schön. Doch Anne fühlte sich, als wäre bereits der November hereingebrochen mit Nebel und feuchter Kälte und Glatteis am Morgen. Sie war froh, dass ihre Frauenärztin sie auch noch für diese Woche krankgeschrieben hatte. Am Sonntag war sie wieder nach Hause gekommen. Am Sonntag hatte sie sich von Cosimo und Anselmo verabschiedet. Und jetzt …
Sie hatte es heute Morgen in der Zeitung gelesen, die sie auf ihrem Weg vom Bäcker mitgebracht hatte. Sie war gut gelaunt aufgewacht und hatte sogar überlegt, ob sie die Geheimnummer anrufen sollte, um mit Cosimo oder Anselmo zu sprechen und sie zu fragen, ob die beiden nicht Lust hätten , sie zu besuchen. Sie hatte sich einen Café au lait gemacht und dazu ein Croissant gegessen, als sie es gesehen hatte. Es war nur eine kleine Notiz auf der Wirtschaftsseite, kaum mehr als fünf Zeilen.
»Im Falle des vermissten Florentiner Geschäftsmannes Cosimo Mecidea und seines Sohnes Anselmo, deren Maschine am Sonntag aus noch ungeklärter Ursache von dem Radar verschwand, besteht kaum noch Hoffnung auf Rettung. Im Atlantik wurden jetzt Wrackteile gefunden, die vermutlich zu dem vermissten Flugzeug gehören. Von Mecidea und seinem Sohn fehlt weiterhin jede Spur. ›Wir müssen davon ausgehen, dass sie tot sind‹, sagte gestern ein Sprecher der Anwaltskanzlei Sampione, die Mecideas Interessen vertritt. Die Testamentseröffnung werde vorgenommen, wenn nicht innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden ein Lebenszeichen der beiden gefunden werde.«
Anne war das Croissant in den Kaffee gefallen. Fast im gleichen Augenblick hatte ein Kurier ihr ein Paket gebracht, das der Größe und Form nach zu urteilen ein Gemälde enthielt und in Florenz abgeschickt worden war. Sie hatte es noch nicht ausgepackt, aber sie ahnte, von wem es war. Danach hatte sie nichts mehr essen wollen.
Natürlich war kein Lebenszeichen zu erwarten, weder von Cosimo noch von Anselmo. Wieso hatte sie nur annehmen können, dass Cosimo die Schlüssel für seine Hazienda seinem Hausarzt schickte? Noch dazu für die Ferien. War sie denn völlig bescheuert? Natürlich war Dr. Sampione kein Arzt, sondern Rechtsanwalt. Und Cosimo hatte ihm die Schlüssel geschickt, damit er auch diesen Teil seines Nachlasses verwalten konnte, wenn er und Anselmo … wenn sie …
Die beiden mussten losgeflogen sein in Richtung Westen, kurz nachdem Annes Maschine gestartet war. Und sobald sie über dem offenen Atlantik waren, hatten sie das Drachenöl getrunken, um niemanden zu gefährden. Eine Weile hatte sich die Maschine bestimmt noch selbst in der Luft
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