Die Feuer von Córdoba
Haus hörte sie die Dielen knarren und das Klappern von Geschirr. Wahrscheinlich deckte Teresa gerade den Tisch für das Frühstück. Oder die Mittagsmahlzeit. Woher sollte sie denn auch wissen, wie spät es war? Es war ohnehin gleichgültig.
Sie drehte sich auf die Seite. Sie wollte niemanden hören, niemanden sehen. Sie wollte allein sein und trauern, sich selbst bemitleiden, ihr Schicksal beweinen, das sie wieder einmal allein zurückgelassen hatte. Da fiel ihr Blick plötzlich auf einen Gegenstand im Zimmer, und im selben Augenblick setzte sie sich in ihrem Bett auf. Mit einem Schlag war sie hellwach. Dort vor dem Kamin stand ihr Koffer. Nicht irgendein Koffer, keine schwere mittelalterliche Reisetasche, auch keine lederbezogene Truhe mit schwarzen Eisenbeschlägen , wie sie sie in den Auslagen der vornehmsten Sattlerei von Córdoba gesehen hatte. Nein, es war ihr kleiner Handkoffer . Der Koffer, den sie am Donnerstag im Jahr 2004 für ihre Reise nach Jerusalem gepackt hatte. Und wenn sich dieses Gepäckstück jetzt hier in ihrem Zimmer befand, konnte das nur bedeuten, dass … dass …
»Anselmo!«
Sie schrie. Sie kreischte. Es klang ihr selbst fürchterlich in den Ohren, wie sich ihre Stimme vor Panik fast überschlug, aber sie hatte es nicht mehr unter Kontrolle. Sie schrie, dass ihr fast das Trommelfell platzte.
»Anselmo!«
»Anne!« Die Tür wurde aufgerissen, und Anselmo stand in ihrem Zimmer mit bleichem Gesicht und vor Angst und Entsetzen weit aufgerissenen Augen. »Was ist los? Brauchen Sie Hilfe?«
Sie starrte ihn an, und ihre Panik verflog schneller, als sie gekommen war. Bereits ein Blick genügte, um ihre noch nicht gestellte Frage zu beantworten. Anselmo trug Jeans, ein schwarzes T-Shirt mit einem Schriftzug von Dolce & Gabbana, und auf seinem kurz geschnittene Haar thronte eine Sonnenbrille. Es gab jetzt keine Zweifel mehr. Sie war wieder …
»In der Gegenwart«, sagte sie leise und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Oder in der Zukunft, wie man es nimmt. Allmählich weiß ich nicht mehr, in welche Zeit ich gehöre. In diese? Oder doch ins Jahr 1544?«
»Verzeihen Sie, Anne, ich habe Sie nicht verstanden«, sagte Anselmo höflich und trat ein paar Schritte näher an ihr Bett. Er sah immer noch besorgt aus. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt. Aber Cosimo sagte, es sei so weit und ich solle mal nach Ihnen sehen. Deshalb …«
»Ist schon gut, Anselmo, es ist nichts. Ich sah nur den Koffer , und plötzlich …« Sie musste lachen. »Ja, jetzt kann ich lachen. Aber im ersten Augenblick, als ich nach dem Aufwachen meinen Koffer da vor dem Kamin stehen sah, da hat mich doch die Panik ergriffen. Eben noch habe ich Karl V. verabschiedet, und jetzt Dolce & Gabbana …« Sie rieb sich die Stirn, hinter der sich ein unangenehmer Druck aufzubauen begann. Hoffentlich würde das kein Migräneanfall werden . »Es ist wohl wie ein Jetlag. Ich bin eben noch nicht so geübt darin, jederzeit beliebig viele Jahrhunderte zu überspringen . Aber ich bin sicher, mit der Zeit werde ich es noch lernen.«
»Das wird hoffentlich nicht nötig sein«, erklang Cosimos Stimme aus dem Hintergrund. Er kam näher und setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Willkommen daheim, Anne. Wie geht es Ihnen?«
»Leidlich. Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen«, erwiderte sie.
Plötzlich durchzuckte sie ein Schreck. Wo war der Ring? Sie begann ihr Bett zu durchwühlen und die Kopfkissen umzudrehen . Sie sprang sogar aus dem Bett und zog die Laken von der Matratze – vergeblich. Der Ring war fort.
»O nein!«, rief sie und hätte am liebsten angefangen zu weinen. Sie fühlte sich wie damals, als sie als kleines Kind ihren Teddy in der Hamburger U-Bahn sitzen gelassen hatte. »Ich glaube, ich habe den Ring verloren. Karls Ring! Seinen Siegelring, den er mir zum Abschied geschenkt hat. Ich weiß, dass ich ihn in der Hand hatte, als ich gestern ins Bett gegangen … das heißt, das war ja vor über vierhundert Jahren. Er muss mir im Schlaf aus der Hand gefallen sein und … Meinen Sie, er könnte immer noch hier irgendwo liegen? Vielleicht hat ihn jemand …«
Plötzlich wurde ihr kalt und heiß zugleich. Sie sah Anselmo und Cosimo an, und ihr wurde übel. Das konnte doch nicht wahr sein! Wie sollte sie ihnen das nur erklären?
»Ich habe auch das Drachenöl vergessen«, sagte sie leise , während sie das Gefühl hatte, jemand würde die Dielen unter ihren Füßen Stück für Stück entfernen. »Ich … ich
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