Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
In der Mitte des Blattes reihten sich, in einer winzigen Handschrift geschrieben, Vokale und Konsonanten in einer Chiffre, die der von Zuàne Francesco und seinen Schülern untersuchten sehr ähnlich sah.
»Wer hat Euch das gegeben?«, fragte Mocenigo.
Riccio verbarg sein Zögern hinter einem Lächeln. »Jemand vom Florentiner Hof, der dem Großherzog sehr nahesteht.« Der Mönch beugte den Kopf. »Ihr mögt mir verzeihen, dass ich den Namen, jedenfalls vorerst noch, verschweige.« Der Prokurator warf ihm einen finsteren Blick zu. »Ich habe außerdem erfahren, dass Lucia Vivarini eine große Bibliothek besaß und dass Bianca Cappello davon wusste.«
»Was für eine Art von Bibliothek?«, fragte Mocenigo schroff.
Angelo Riccio zuckte mit den Schultern. »Was man versteckt, ist niemals sauber, Eccellenza. Mir ist jedenfalls der Gedanke gekommen, dass der Florentiner genau diese Bücher suchen könnte. Verbotene, gefährliche Bücher. Bücher, die auf dem Index stehen, und darum erlaube ich mir zu insistieren, Eccellenza: Dieser Mann muss wieder in die Lage versetzt werden, handeln zu können. Das ist wichtig. Wenn er die Bücher findet, werden auch wir sie finden.«
Der Prokurator schloss die Augen, wie er es häufig tat, wenn der Gang seiner Gedanken vor einer Weggabelung zum Stillstand kam. »Ich werde mit dem Rat darüber sprechen.«
»Außerdem gibt es da diesen Türken, Mehmet Hasan. Was nützt es, ihn in diesem einsamen Loch zu halten? Stecken wir ihn zu den anderen Gefangenen, am besten zu den Literaten, die besonders geneigt sind, mit Ungläubigen zu sprechen.«
»Ich werde sehen, was ich für ihn tun kann. Aber allmächtig bin ich nicht«, sagte Mocenigo leise. Ohne noch etwas hinzuzufügen, erhob er sich, beugte vor dem Bildnis Christi das Knie,bekreuzigte sich und ging auf den großen Bogen zu, der aus der Kapelle führte.
Riccio wartete, bis Mocenigo hinter einer Säule verschwunden war, dann ballte er zufrieden die Fäuste und kostete seinen Sieg aus.
48
»Ihr könnt Euch selbst überzeugen. Seht her.«
Mit einer Chirurgenpinzette hielt Luca ein Stück des Darms von Anna Tagliapietra in die Höhe, während er mit der Spitze des Messers, mit dem er die Gebärmutter aufgeschnitten hatte, auf eine Stelle ihres Körpers zeigte.
Der Erste, der einen Schritt vortrat, war der Sekretär Zuàne Formento. Er reckte den Hals und beugte den Oberkörper vor, als betrachte er eine tiefe Schlucht vom Rand des Abgrunds aus.
»Was Ihr seht«, sagte Luca in respektvoll leisem Ton, »ist ein Fötus von etwa vier Monaten.«
Sichtlich betroffen, verschränkte Formento die Finger vor seinem Gesicht und legte die Stirn darauf.
»Arme Tochter«, murmelte er nur bekümmert. Dann, als sei ihm plötzlich ein Gedanke gekommen, drehte er sich abrupt zu Andrea um und blickte ihn finster an.
»Nur Mut, kommt her und seht Euch das Gemetzel an.« Sein Ton war anklagend, als wollte er Andrea für das Geschehen verantwortlich machen.
Andrea, der angespannt und müde war, nahm den aggressiven Ton des Sekretärs wahr und fühlte Zorn in sich aufsteigen, doch ihm halfen seine Erfahrungen im Gerichtssaal, wo Anklage und Verteidigung einander fortwährend mit Angriffen und Provokationen herausfordern, um zum Plädoyer zu reizen und die gegnerische Seite zu Fehlern zu verleiten. Er beschloss, dem Sekretär nicht zu widersprechen, stellte sich neben ihn und blickte aufdie Ansammlung feuchter Eingeweide hinunter. Dann schloss er seufzend die Augen.
»Der Tod hat kein Mitleid«, sagte er aufrichtig erschüttert.
»Bezeugen wir unseren Respekt vor diesen beiden armen Seelen.« Formento bekreuzigte sich und senkte den Kopf. » De profundis clamavi ad te, Domine: Domine exaudi vocem meam .«
Seine Stimme wurde zu einem undeutlichen Flüstern, während er die Verse des De Profundis betete. Andrea nutzte den Moment, um Luca einen Blick zuzuwerfen, mit dem er sein distanziertes Verhalten erforschen wollte. Der Freund verstand den Blick und antwortete mit einer kaum merklichen Handbewegung, die Andrea bedeutete, zu warten, und flüsterte ihm hastig ins Ohr: »Ich muss dir wichtige Dinge sagen. Du wirst von mir hören, aber pass auf, denn in dieser Geschichte riskiert man sein Leben.«
49
Die Vorzeichnung des Schiffsrumpfes begann mit einem Gebet, zwei Pflöcken, einer Schnur und fünfundzwanzig Schritten. Es hatte zu regnen begonnen, ein feiner Regen, vom Wind herangetragen, der umherwirbelte und sich kräuselte, und vor dem es kein
Weitere Kostenlose Bücher