Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
andere Ende der Schnur befestigte. Bald würde es Abend werden, und mehr konnte er an diesem stürmischen Tag nicht tun. Er richtete sich auf, wandte sich zum Heck und stellte sich das schöne, schlanke Schiff vor, das dieDollborde für die Ruderer zu beiden Seiten verbreiterten und wie einen zum Himmel geöffneten Kelch formten.
In diesem erhabenen Moment aus Imagination und Berechnung brachten ihn zwei dunkle Silhouetten auf die feuchte und windige Erde zurück. Sie kamen aus den Lagern für die Ausrüstung, und angesichts der Menschenleere ringsum konnten sie nur seinetwegen hier sein. Aus einer Entfernung von etwa dreißig Schritt erkannte er Celso Calbo, dem er vor Jahren, als er noch eine kleine Werft besaß, eine flache topeta für das Fischen im Sumpf gebaut hatte. Der Mann trug einen schweren Umhang zum Schutz vor dem Regen, darunter sah man die schwarze Toga mit dem weißen Kragen und den weiten, flatternden Ärmeln der Fanti des Rats der Zehn. Den anderen kannte er nicht, doch als sie näher kamen und Rosso die Hose und den schwarzen Kittel sah, wusste er, dass dieser junge Mann ein Lehrling sein musste. Sein Herz klopfte bis zu den Schläfen.
»Ein ekelhafter Tag, um draußen zu arbeiten«, sagte der Fante, als sie in Hörweite waren.
Einen Augenblick durchzuckte Rosso der Impuls, wegzulaufen wie ein Kind, das beim Stehlen von Mispeln erwischt wurde, doch das hätte nichts genützt.
»Signor Calbo, hochverehrter Freund!« Er bemühte sich, höflich zu sein. »Welch eine Freude, Euch zu sehen. Ich hoffe, es geht nicht um Probleme mit dem Boot«, sagte er, wohl wissend, dass der Fante und sein Gehilfe in diesem Aufzug und bei diesem Wetter aus beruflichen Gründen und nicht zum Zeitvertreib gekommen waren.
»Weit gefehlt! Bei jedem Ruderschlag preise ich Euch, ehrenwerter Werkmeister«, erwiderte der andere heiter, »dieses Bötchen ist ein Meisterstück Eurer Kunst.«
Die mit freundlicher Vertraulichkeit ausgesprochenen Worte nahmen Rosso einen Teil seiner Angst. Auch die Tatsache, dass der Fante und sein Gehilfe nicht mit dem Missièr Grande und Soldaten gekommen waren, beruhigte ihn. »Es ist nicht schlechtgeraten, das muss ich zugeben«, sagte er mit einer Spur Stolz. »Die Hölzer waren alt und gut abgelagert.«
Die beiden gaben sich die Hand.
»Ich bin leider gezwungen, Euch zu stören.« Eine leichte Beunruhigung überschattete das Gesicht des Fante. Er zog ein gefaltetes, feuchtes Stück Papier aus seinem Ärmel, welches das Siegel der Zehn mit dem Maul des Löwen von San Marco zwischen einem C und einem X trug. »Eine dringende Vorladung der Häupter der Zehn. Nichts Ernstes«, beeilte sich Calbo zu erklären.
Der Werkmeister versuchte, das Zittern seiner Hand zu unterdrücken, als er das Schreiben an sich nahm, doch es gelang ihm nicht ganz, und ihm schien, als hätte der Fante es bemerkt. Er brach das Siegel und überflog die wenigen Zeilen und die Unterschrift. Es war eine Vorladung in den Dogenpalast, vor die drei Häupter der Zehn, doch ein Grund wurde nicht angegeben.
Bepo Rosso hob den Blick zu dem Beamten.
»Ich danke Euch. Sobald ich kann, werde ich hingehen.«
Der Fante schwieg, doch gerade lang genug, um Atem zu holen. »Verzeiht, protomaistro «, sagte er mit einem Hauch Verlegenheit, »doch Ihr müsstet uns jetzt sofort begleiten, man erwartet Euch.«
Rosso fuhr sich mit der Hand über das regennasse Gesicht. Wieder blitzte die Vorstellung, zu flüchten, in ihm auf, aber es war, als hätte er an Essig gerochen. Sie schüttelte ihn und verflog.
»Gewiss«, sagte er halblaut, nahm seine Werkzeugtasche, hängte sie sich über die Schulter, und die beiden nahmen ihn in ihre Mitte.
50
Alvise Loredan hatte das sonnenverbrannte Gesicht mit den Fächern hellerer Falten um die Augenwinkel aller auf See lebenden und arbeitenden Menschen. Anders als Andrea sah Alvise dem Vater überraschend ähnlich: derselbe rötliche, gekräuselte Bart, den die bis über die Schläfen gezogene schwarze Wollmütze kaum zu bändigen vermochte. Auch die Nase hatte er von Pietro: groß, gerade, mit ausgeprägten Nasenlöchern.
An diesem stürmischen Nachmittag um die zwanzigste Stunde, als die dunkle Linie des Lido zwischen den Schaumkronen der Wellen und dem vom Schirokko zerstäubten Wasser aufgetaucht war, hatte Alvise das Steuerruder der Santa Chiara Capitana seinem knapp zwanzigjährigen, lernbegierigen Sohn Lunardo abgenommen. Auf dem ganzen Mittelmeer gab es nämlich nur wenige Kapitäne,
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