Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
den Hund zu. »Kooommm!«, rief sie wieder und versuchte, ihre Stimme sanft klingen zu lassen, doch der Hund trieb mit der Strömung, und sie machte noch einen Schritt auf das Ufer zu, das sie weit entfernt glaubte. Vielleicht war der Schritt zu groß, weil die Rettung des Hundes sie mehr beschäftigte als ihre eigene, denn als sie den Fuß aufsetzen wollte, spürte sie keinen Boden mehr unter der Sohle. Einen Augenblick lang versuchte sie, dem Ungleichgewicht zu begegnen, indem sie die Arme nach hinten warf, doch es gab keine Umkehr mehr, und sie stürzte. Das kalte Nass umfing sie und schloss sich über ihr. Die Luft wurde zu Wasser. Sie hielt in dem schlammigen Grün den Atem an, suchte mit den Händen nach einem Halt, nach der Stufe aus Stein. Nichts.
Das Kleid hatte sich um ihre Beine geschlossen wie eine Glockenblume bei Nacht, nur die Arme konnte sie noch bewegen. Ein, zwei Stöße. Sie meinte zu spüren, dass das Wasser leichter wurde, weniger trübe, sah, wie das schlammige Grün sich inSilber verwandelte. Dann sah sie das Licht, öffnete den Mund und atmete. Sie begann, zur Fassade des nächstgelegenen Hauses zu schwimmen, indem sie sich nur mit den Armen vorwärtszog, noch immer überzeugt, dass es ihr gelingen würde, sich aus dieser Lage zu befreien, endlich einen Halt zu finden. Doch alles, was sie spürte, war das Gewicht ihres Kleides, das sie in die Tiefe zog. Und wieder stieg das Wasser ihr bis ans Kinn, bis in den Mund. Sie blickte zum Himmel und konnte einen letzten Atemzug tun, dann sank sie wieder unter die Oberfläche.
55
In der Locanda della Torre war das Wasser durch den Eingang gedrungen. Schon stand es in der Küche und sammelte sich in der Mitte des Flures, der an dieser Stelle eine Senke hatte, weil die Pfähle, auf der die Locanda ruhte, dort leicht nachgaben. Während die Gäste sich im Obergeschoss einrichteten und die Wirtsleute unten zankten, trat Andrea, gefolgt von Francesco, mit entschlossenen Schritten und finsterer Miene an die Eingangstür. Er war eben im Begriff, sie zu öffnen, als ein Windstoß ihm zuvorkam und sie ihm ins Gesicht schlug. Der die Böe begleitende Wasserschwall war ebenso heftig. Andrea musste sich zu seinem Assistenten umdrehen und schreien, um den Lärm zu übertönen:
»Bleib drinnen!«
»Ich komme mit Euch, es ist gefährlich, allein draußen herumzulaufen!«, erwiderte Francesco energisch, und sie traten in den Sturm hinaus.
»Sie muss über die Brücke gegangen sein«, rief Andrea, »und sie hat bestimmt den Weg über die Kirchen genommen, der ist am sichersten!«
»Auf ihren gesunden Menschenverstand würde ich nicht allzu sehr vertrauen.«
Wahrscheinlich hatte sein Gehilfe recht. Andrea schaute sichum: Mit Ausnahme der Locanda, deren Fensterläden bei jedem Windstoß vor- und zurückschlugen, waren alle Türen und Fenster, Eingänge und Dachluken verrammelt. Auf dem Rio hatten sich weiter vorn, zur Lagune hin, zwei Gondeln quer gelegt, eine war schon halb versunken.
»Gütiger Himmel!«, rief Francesco aus und löste sich von der Hauswand.
»Wo willst du hin?«, schrie Andrea, doch der junge Mann war schon drei Schritt entfernt, bis zu den Knien im Wasser watend. »Pass auf, dort geht es nach unten!«
Francesco griff nach etwas, was auf dem Wasser schwamm und kehrte zu Andrea zurück. »Seht her!« Er zeigte ihm einen Schuh. »Der gehört Sofia!«
»Was sagst du da?«
»Ja, Avvocato, ich bin ganz sicher, als sie ging, hat sie sich die Schuhe ausgezogen, sie hielt sie in der Hand, ich habe sie genau gesehen!«
Andrea blickte ihn bestürzt an. Jetzt verließ auch er die schützende Wand und ging, die Füße durch das Wasser ziehend, auf die Brücke zu.
»Sofia!«, rief er, nach allen Seiten spähend, »Sofia!«
Francesco folgte ihm und fiel in die Rufe ein: »Signora Ruis!«
Sie riefen weiter, während sie an der engen Calle di Borgoloco vorübergingen, die der Brücke direkt gegenüberlag. Auch diese Gasse hatte sich in einen reißenden Strom verwandelt. Im Hintergrund, in Richtung Palazzo Grimani, trieb ein führerloser Sandolo.
Als Sofia die Luft auf ihrem Gesicht spürte, öffnete sie den Mund, doch Wasser verschloss ihr die Kehle. Sie hustete, verlor dabei kostbare Atemluft. Noch einmal versuchte sie, nach Luft zu schnappen. Vergebens. Sie spürte, dass sie in die Tiefe gezogen wurde, ruderte wild mit den Armen. Noch einmal hob sie das Gesicht zum Himmel und meinte die Wirtin der Locanda aneinem vergitterten Fenster zu sehen, die
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