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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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Pizzamano besorgt.
    Granzo blieb stehen. Einen endlosen Moment lang hörte man nur das Keuchen des Gejagten und seines Jägers, dann folgte eine Bewegung, die dem unfreiwilligen Publikum den Atem stocken ließ wie der Flug vom Campanile am Karnevalsdonnerstag: Blitzschnell entwand sich der Junge dem Griff des Arsenalotto, schlug einen Haken, flog mit einem gewaltigen Satz vom Folterpodest aus regelrecht über Dottor Dalessis Kopf hinweg, ergriff den doppelten Strick, der von der Decke hing, und kletterte daran wendig wie ein Äffchen in die Höhe, bis hinauf zur Winde. Dort oben, mindestens acht Ellen über dem Boden, blieb er hängen, die weit aufgerissenen Augen ins Leere gerichtet.
    »Runter, du Strolch!«, brüllte Puti, ergriff den Strick und riss daran.
    »Haltet ein!«, schrie Catanio den Folterknecht an. »Der Junge bricht sich den Hals!«
    Alles hielt inne, und eine bleierne Stille senkte sich über den Raum. Aller Augen waren auf die im Dunkeln liegende Höhe gerichtet, wo Granzo, der verloren und verzweifelt nur mit einer Hand an dem Balken mit der Winde hing, jeden Augenblick zu fallen drohte.
    »Ich bin unschuldig!«, schrie er. »Unschuldig!«
    Der Schrei ließ Alvise Catanio aufspringen, und als er das Zögern des Notars sah, dessen Federkiel über dem Papier schwebte, drängte er: »Schreibt! Der Angeklagte erklärt sich für unschuldig.« Dann wandte er sich an Pizzamano: »Wenn ich etwas sagen darf, Ser Pietro«, flüsterte er in vertraulichem Ton, »den Jungen zu erschrecken nützt gar nichts. Lasst uns die anderen wegschicken, und nur wir von der Zonta bleiben.«
    Pizzamano warf ihm einen Blick zu und nickte kaum merklich. Rasch wechselte er ein paar Worte mit Pasqualigo und Dolfin, dann teilten die beiden sich die Aufgabe, Dottor Dalessi, den Arsenalotto und die Wächter aus dem Raum zu schicken. Als der Letzte über die Treppe verschwand und die Schritte verklangen, nahm Pizzamano einen der Schemel und stellte ihn vor den Schreibtisch. Dann blickte er wieder zu dem Jungen hinauf.
    »Wer unschuldig ist, hängt nicht dort oben wie eine Fledermaus!« Er zeigte auf den Schemel. »Komm runter, dann reden wir.«
    Granzo schwieg zunächst.
    »Krieg ich den Strick nicht?«
    »Nein.« Pizzamano wies mit einer Geste in den Raum. »Siehst du nicht, dass der Mann für den Strick weg ist?«
    Granzo schien zu überlegen.
    »Versprecht Ihr mir das bei Eurer Ehre?«
    »Niemand wird dir etwas zuleide tun. Das verspreche ich dir. Gott sei mein Zeuge.« Der alte Edelmann legte sich eine Hand aufs Herz.
    Der Junge wartete noch einen Moment, dann ließ er sich mit der Kraft und Wendigkeit seiner muskulösen Arme und des kräftigen Oberkörpers am Seil hinunter. Knapp über dem Boden angelangt, sprang er ab und kam mit geschlossenen Füßen zum Stehen. Prüfend musterte er die drei Richter, den Signore di Notte al Criminal, den Sekretär und sogar den Notar, um deren ehrliche Absichten zu ergründen. Dann entschloss er sich zu sprechen.
    »Oberster Paròn, ich sag Euch die Wahrheit. Gabriele Ruis hat seinen Bruder Tonino umgebracht.«
    Die Worte des Jungen schwebten in der Stille, nur die Feder des Notars kratzte auf dem Papier. In der Ferne begann die Glocke von San Marco zu Mittag zu läuten.
    »Das ist eine schwere Anschuldigung«, ermahnte ihn das Haupt der Zehn feierlich.
    Granzo begann zu zittern, bekreuzigte sich und küsste seine Fingerspitzen.
    »Alle Teufel der Hölle sollen mich holen, wenn das nicht wahr ist!«
    Pizzamano sah seine beiden Kollegen, den Beamten des Criminal und zuletzt Formento an.
    »Gebt ihm eine Decke«, sagte er zu Formento.
    Der deutete eine Verneigung an, ging zu einem Schrank aus dunklem Nussbaum, öffnete die Türen und zog eine zusammengefaltete Decke heraus. Er faltete sie auf und legte sie demJungen über die Schultern. Granzo wickelte sich darin ein, noch einmal leicht erzitternd.
    »Setz dich und erzähl uns alles von Anfang an«, forderte Pizzamano ihn auf.
    Die drei Häupter der Zehn und der Signore di Notte al Criminal setzten sich. Ohne dass es noch weiterer Fragen bedurft hätte, begann Granzo zu erzählen, und die Feder des Notars eilte, Granzos Worten folgend, über das Papier.

72
    Der Kohlestift flog über die Leinwand. Die Öllampe in der linken Hand, schrieb Ferigo Marin die letzten Buchstaben. Dann trat er einen Schritt zurück, hob die Lampe und bewunderte sein Werk. Auf einer Leinwand, die zweimal so groß war wie die für die sieben Buchstaben des

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