Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Diesem Entschlüsselungsakt wohnte etwas Erhabenes inne, dachte er, während er die erste Zeile überflog. Die Erregung, die er dabei verspürte, hatte große Ähnlichkeit mit dem Gefühl, das ihn noch immer überkam, wenn sich vor seinen Augen ein weibliches Wesen enthüllte.
»Worauf wartest du?« Pietros heisere Stimme brachte ihn in die Wirklichkeit zurück.
Ferigo beeilte sich, den ersten Buchstaben zu lesen: k.
Pietros Kohlestift legte sich auf das i des ersten vertikalen Alphabets der Tabula recta, den ersten Buchstaben des Schlüsselworts. Von dort glitt er nach rechts, blieb auf dem k stehen, um dann entschlossen wieder nach oben bis zum ersten horizontalen Alphabet zu wandern. Dort traf er auf ein s 2 .
»Da haben wir unsere erste Dame ohne Maske!« Er schrieb den Buchstaben in die rechte obere Ecke der Leinwand. »Lies den zweiten Buchstaben!«
Wieder fuhr die Spitze des Kohlestifts am ersten vertikalen Alphabet hinunter und blieb auf dem n stehen, dem zweiten Buchstaben des Schlüsselworts. Es folgte dieselbe Bewegung nach rechts, dann wieder nach oben zum ersten Alphabet, wo ein o erreicht wurde.
»Der zweite Buchstabe«, rief Pietro siegesgewiss aus und schrieb ihn neben das s.
Das v, der dritte Buchstabe des Schlüsselworts, führte zu einem d, und schon bald bildeten die gewonnenen Buchstaben in der oberen Ecke der Leinwand ein Wort: sodann.
»Sodann …«, las Ferigo leise und wiederholte es flüsternd.
»Nun? Was denkst du?« Pietros Frage zerstörte den Zauber dieses Augenblicks. Doch Ferigo war nicht böse, im Gegenteil.
»Du bist gut!«, rief er bewundernd aus.
»Wir sind gut!«, verbesserte ihn Pietro begeistert.
»Machen wir weiter?«, fragte Pietro, obwohl er die Antwort schon wusste. Lächelnd fuhren sie fort, die Buchstaben der geheimen Botschaft einen nach dem anderen aus der Tabula recta herauszufiltern, indem sie der vom Schlüsselwort vorgegebenen Ordnung folgte:
Sodannbegannerauffolgendeweisezutrennen…
Während der Klartext Buchstabe für Buchstabe auf der Leinwand Gestalt annahm und zusehends länger wurde, schmolz das letzte Wachs der Kerzen unter einem Aufzucken der Flammen dahin.
…zuerstnahmereinenteildesganzendanachnahmereindoppeldesselben…
Zurück blieben der Schein der Öllampe, Ferigos Flüstern beim Buchstabieren der Lettern und das Kratzen der Kohle auf der Leinwand.
…hieraufeindrittelwelchesanderthalbmalvomzweitenteilunddreimalvomerstenwar…
Dann begann auch das Flämmchen der Lampe schwächer zu werden.
…danneinenviertenwelcherdasdoppeltedeszweitenwardaraufeinenfünftenwelcherdasdreifachedesdrittenwar…
Ferigo kürzte den Docht, bis die Flamme zu einem leuchtenden Pünktchen schrumpfte, das nur noch dazu diente, eine winzige, faustgroße Welt zu erhellen …
… hieraufeinensechstenwelcherachtmaldererstewarundzuletzteine nsiebentenwelcher…
Die letzten Buchstaben kamen in einer Art Wettlauf zwischen der Kunst des Dechiffrierens und der Agonie des Lichts zustande. Einen Augenblick bevor das Flämmchen sich um den Docht schloss, hielt Ferigo eine Ecke des Blattes mit der Chiffre an den ersterbenden Rest Feuer, und die schwache Glut, die entstand, gab Pietro genug Licht zum Schreiben:
…siebenundzwanzigmaldererstewar.
Nun wurde auch dieses Blatt zu Asche, und tiefste Dunkelheit umfing den Saal.
»Wir haben es geschafft! Kannst du dir das vorstellen? Zum ersten Mal schaffen wir es ohne meinen Vater. Das wird ihm nicht gefallen.«
»Im Gegenteil, er wird sich freuen.«
»Hoffentlich …«, seufzte Ferigo. »Wie spät mag es sein?«
»Etwa Vesperzeit, denke ich.«
»Er hat lange zu Mittag gegessen.«
Unter der Tür blitzte eine Klinge aus Licht auf, und ein lauter werdendes Stimmengewirr kündigte an, dass jemand sich näherte.
»Da ist er!« An einem hohen Ton erkannte Ferigo die Stimme seines Vaters.
»Er streitet schon wieder …«
»So ist er eben.«
Ein Schlüssel wurde in das Schloss gesteckt, der Riegel zur Seite geschoben, die Türflügel öffneten sich, und ein gewaltiger Schwall Licht ergoss sich in den Saal, begleitet von der erregten Stimme Zuàn Francesco Marins.
»… unsere Verspätungen sind die Kinder Eurer Versäumnisse, erhabener Cancelliere!«
»Sucht Eure Chiffren und lamentiert weniger, verehrter Cavaliere!«, ermahnte ihn der Großkanzler Ottobon.
»Was ist denn hier los?«, rief Marin aus. »Was soll diese Finsternis?«
»Wir haben keine Kerzen mehr, Vater.« Ferigos Stimme erhob sich
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