Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Treppen. Er streckte die Arme aus. »Gib her, ich trage sie dir!«
Der Anwalt gab ihm den ganzen Packen und ging mit schleifenden Schritten weiter über den spiegelglatten Boden der Loggia in Richtung der Bögen, die sich auf die Lagune und ihre Inseln öffneten. »Wir ziehen um zu den Giudici del Proprio, aber nur so lange, wie die Ausbesserungsarbeiten dauern.«
Andrea folgte ihm in den Flügel des Palazzo, der einige Gerichtshöfe beherbergte. Der Anwalt trat in einen Saal vollerSchränke und Schreibtische. Er schloss die beiden Türflügel hinter Andrea und legte einen Riegel vor die Tür.
»Diese Dachfenster haben schon immer Ärger gemacht«, sagte Zon mit zusammengebissenen Zähnen und nahm Andrea den Aktenstapel aus der Hand. »Das Dach ist nicht für Fensterscheiben, sondern für Bleiplatten gemacht«, fuhr er fort, während er mit hastigen Bewegungen die Bücher von den Registern, die Aktenbündel von den Schriftsätzen und die Urteilsprotokolle von den Prozessaufzeichnungen trennte. Als seine Augen zu Andrea zurückkehrten, glühten sie vor Hass. »Deinetwegen habe ich vor den Zehn eine schlimme Figur gemacht!«, knurrte Zon. »Vor dem Dogen, deinem Vater!« Er verstummte keuchend.
Andrea musterte ihn. Sein Gemütszustand ließ sich an den pulsierenden Schläfenvenen und der Gesichtsfarbe ablesen, die sich den roten Flecken mit schuppiger Haut zwischen den Augenbrauen und an den Nasenflügeln anglich. Was er befürchtet und Sofia angekündigt hatte, war prompt eingetreten. Andrea hob die Arme und wollte etwas erwidern.
»Halt den Mund!« Zons Stimme zitterte vor Wut. »Sie haben mich wegen dieses Gefangenen, Gabriele Ruis, einberufen! Der Doge hat sich eingemischt, wollte wissen, warum ein Junge in so zartem Alter zusammen mit Verbrechern eingesperrt wird und warum ich, ein Gefängnisanwalt, nicht eingeschritten bin, um diesen Irrtum zu korrigieren.« Er riss den Mund auf, schnappte nach Luft. »Keiner von den Zehn hat ein Wort zu meiner Verteidigung gesagt, alle taten höchst verwundert.« Ein Speichelfaden rann ihm aus dem Mundwinkel. »Und gestern hast du dich auch noch in den Fall dieses Türken eingemischt, der in den Pozzi sitzt. Was haben die Zehn gemacht? Sie haben sich das Kreuz abgenommen und es mir auf den Rücken gelegt: ›Nachlässig‹ haben sie mich genannt. Und der Avogador di Comun hat mir dreißig Silbergroschen Bußgeld auferlegt und den Verweis in die Kanzleiakte eintragen lassen!« Er schwankte sichtlich. »Das ist alles deine Schuld, allein deine Schuld!« Keuchend zeigte erauf Andrea wie ein verletzter Raufbold, der das Schwert nicht wegwerfen und sich nicht ergeben will.
»Hör mal, Giacomo«, versuchte Andrea zu erklären.
»Nenn mich nicht so!«
»Gut, Avvocato Zon«, hob Andrea in höflichem, aber bestimmtem Ton an. »Ich habe niemals etwas gegen dich unternommen. Nie.«
Zons Augen weiteten sich, als tobe der innere Druck der Wut sich just an dieser Stelle aus. »Du willst mich wohl für dumm verkaufen!«, explodierte er. »Glaubst du, ich weiß nicht, dass du hier in den Palazzo gekommen bist, zusammen mit dieser verrückten Ruis, und beide seid ihr von deinem durchlauchtigsten Vater empfangen worden?«
»Diese Verrückte, wie du sie nennst, ist eine arme verzweifelte Frau, die schon einen Sohn verloren hat!«, gab Andrea empört zurück.
»Glaubst du, das weiß ich nicht?«, brüllte Zon ihn an. »Aber du, du hast dich eingemischt und alle Regeln übertreten!«
Obgleich mit solch rasender Wut angegriffen, nahm Andrea all seine Geduld zusammen, um nicht unüberlegt zurückzuschlagen, sondern jedes Wort abzuwägen wie ein Botschafter am Verhandlungstisch.
»Ich hätte vorher mit dir sprechen sollen. Nimmst du meine Entschuldigung an, oder müssen wir uns duellieren?«, sagte er und bemühte sich, seinen Worten eine Spur Reue beizumischen, obgleich er innerlich bebte. In diesem Moment klopfte es an die Tür.
»Wartet bitte!«, brüllte Zon, und das Klopfen hörte sofort auf. Er wandte sich wieder zu Andrea.
»Ich habe dich immer geschätzt, Avvocato Loredan.« Seine Stimme hatte den aggressiven Unterton verloren. »Vor zwei Jahren, als dein Vater zum Dogen gewählt wurde und du dich anschicktest, dein Amt niederzulegen, wollte der Rat der Zehn meine Meinung dazu hören.« Er seufzte, als fiele es ihm schwer,weiterzusprechen. »Ich sagte ihnen, dass der eigentliche Gesetzesbruch darin bestehe, für die Verteidigung der Gefangenen auf einen so wertvollen,
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