Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
für Gabriele, die andere für Tonino.
Die Meisterin Marietta, eine drahtige Frau, deren rabenschwarze Haare von einer weißen Strähne in der Mitte geteilt wurden, hatte Sofia mit aufrichtiger Zuneigung empfangen. Nach tausenderlei Ermahnungen hatte sie sie sofort zum Nähen neben den Schreibtisch geschickt, wo sie selbst saß und von wo aus sie Sofia kontrollieren konnte. Außerdem befand sich dort einer der vier großen Keramik-Öfen, die den Raum und die Herzen erwärmten.
Der große Raum war erfüllt vom Rascheln der Stoffe. Jedes Gewebe, mit dem die Segeltuchnäherinnen hantierten, Mädchen und Frauen von fünfzehn Jahren aufwärts, erzeugte ein anderes Geräusch. Da gab es das seidige, leichte Tuch aus Viadana, das sich für schwache bis mittlere Windstärken und die Brisen in der Lagune eignete. Und es gab das raue, schwere Hanftuch aus Vercelli, aus dem Segel für starke Winde und Stürme gemacht wurden.
An einem Großsegel aus dreiundfünfzig Bahnen arbeiteten normalerweise zehn Frauen. Sie saßen in einer Reihe auf Schemeln, Nadel, Faden mit Wachssalbe und Fingerschutz sowie einen halben, mit Bleiplättchen verstärkten Handschuh, mit dem sich Druck auf die Öse ausüben ließ, in der nähenden Hand undauf dem Arm die schon zugeschnittene, schablonierte und nummerierte Bahn. Auf Befehl der Meisterin begannen sie alle gemeinsam mit einem engen Zickzackstich, und die Erfahrenen unter ihnen mussten sich dem Rhythmus der Langsamen anpassen, meist junge Frauen und Anfängerinnen. Denn sie mussten alle gleichzeitig am Rand ankommen, sonst würde das Segel genau dort reißen, wo die Schnellste gearbeitet hatte, hieß es bei den Matrosen. Unten angekommen, arbeiteten die Näherinnen, die nun das ganze Segel auf dem Schoß hatten, mit dem Zickzackstich in umgekehrter Richtung. Wenn eine ausgewechselt wurde, hielt die ganze Reihe an. Wenn es wegen eines dringlichen Bedürfnisses eine Unterbrechung gab, nutzten das auch die anderen. Es gab eine Essenspause, wenn die Glocke zur sechsten Stunde schlug, dann ging das Nähen bis zum Sonnenuntergang in diesem gleichförmigen Takt weiter.
Während der Arbeit war das Sprechen nicht erlaubt, doch Regeln werden bekanntlich manchmal gebrochen, und seit Sofia an diesem Morgen auf ihrem Schemel saß, waren schon viele halblaut gesprochene Worte hin- und hergeflogen. Denn der Tod von Tonino hatte alle Segeltuchnäherinnen, Freundinnen oder Feindinnen, tief betroffen gemacht. Viele von ihnen waren Mütter oder würden es bald sein, und bei der Trauerfeier für alle Toten des Arsenale in der Kirche San Martino hatte es einen Streit zwischen Sofia und Don Perseghin, dem Pfarrer, gegeben, weil Sofia dessen Segen auch für Tonino, der als Kirchenräuber mit den Hostien der heiligen Kommunion in der Tasche gestorben war, haben wollte. Das hätte sie nie erreicht, wenn nicht ausgerechnet ihre ärgste Feindin, die erfahrene Segelnäherin Clara Pozzo, ein Mitglied der Bruderschaft der Gemeinde San Martino, sich nicht offen auf ihre Seite gestellt und alle anderen mitgezogen hätte.
Niemand anders als Clara hatte sich an diesem ersten Arbeitstag neben sie gesetzt, um die Bahnen III und IV zu nähen, und hatte Sofia die Bahnen I und II überlassen, die von der Seitebearbeitet wurden und die bequemsten, bei den Arbeiterinnen beliebtesten Bahnen waren. Clara hatte Sofia viel zu erzählen, banale Dinge, um sie ein wenig zu zerstreuen und Freundschaft mit ihr zu schließen, aber auch ernste Dinge, die sich um die Tragödie des 13. September drehten. Nur von Tonino sprach sie absichtlich nicht.
So hatte Clara zum Beispiel von den zwei neuen jungen Näherinnen erzählt, die vor kurzem eingestellt worden waren und beide, ohne es voneinander zu wissen, eine Liebschaft mit demselben Mastbauer hatten, einem bekannten Schürzenjäger, verheiratet und Vater von drei Kindern. Dann war eine Zuschneiderin an der Reihe, Marta, die ein kleines Mädchen am Busen trug, während sie Hanf zuschnitt. So ging es weiter über Hochzeiten, Verlobungen und Liebschaften, die sich seit jeher zwischen den Segelnäherinnen und den Mastbauern entspannen. Clara hatte einen ganzen Korb voll solcher Geschichten. Doch eigentlich wollte sie von anderen Dingen sprechen.
Und so waren sie zu den ernsten Gesprächen übergegangen. Alles hatte mit dem Anblick der Verwüstung begonnen, der sich durch die Fenster im Westen und Osten in seiner ganzen Tragik bot. Der Glutherd der Explosion dicht bei der Celestia, wo die erste
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