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Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)

Titel: Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giuseppe Furno
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eines barfüßigen und zerlumpten Kindes. Was sich dort näherte, war bereits ein kleiner, improvisierter Trauerzug mit einem würdevollen, ernsten Gefolge ohne Tränen, Schreie und Weinen. Ein Geleit aus Männern unterschiedlichen Alters, die nichts mit dem Toten gemein hatten außer dem Mitleid, das man für jene empfindet, die jung sterben. Es waren Zivilisten und Soldaten, Bürger und junge Patrizier. Als Andrea den stolzen Blick des Fante sah, der an der Spitze ging, nahm er sich vor, ihn für dieses Verhalten zu ohrfeigen, aber dazu kam es nicht, denn bevor er handeln konnte, sagte der Fante: »Es ist, wie ich sagte, Capitano   …« Andrea blickte ihn fragend an und wartete. »Wir haben ihn nicht getötet. Erhat eine kleine Wunde hier, seht her   … es sieht aus wie der Stich eines Stiletts.«
    Während Andrea das Kind betrachtete, stiegen die Fanti die Stufen hinauf und legten den Körper am Fuß des Altars nieder, wo sie sich an seiner Seite postierten wie eine Ehrenwache. Der Geleitzug reihte sich zu einem Halbkreis auf. Bepo Rosso nahm seine Mütze ab und bekreuzigte sich, zur menschlichen Regung des Mitleids zurückfindend, die ebenso rasch verfliegt wie sie auf der Welle von Gefühlen wiederkehrt.
    Andrea blieb einen Schritt vor dem Leichnam stehen. Er lag so da, wie er abgelegt worden war: die Arme ausgebreitet und die Füße nebeneinander, wie ein vom Kreuz genommener kindlicher Christus. Andrea nahm seinen Mut zusammen und berührte ihn. Er war lauwarm. Das Kind mochte zehn, vielleicht elf Jahre alt sein. Die Spur des tödlichen Stichs war kaum zu sehen, ein kleiner roter Fleck auf der Höhe des Herzens. So etwas hatte Andrea noch nie gesehen, vielleicht rührte er wirklich von einem Stilett her. Die Hände waren blutverschmiert, die Finger schmal, die abgekauten Nägel schwarz. Ein Ohrring im Ohrläppchen. Am Daumen ein Bernsteinring. Andrea wühlte in den Hosentaschen des Jungen. Nichts.
    »Signor Capitano.«
    Andrea blickte auf. Jetzt fühlte er sich den Fanti gegenüber schuldig, aber er war auch erleichtert, denn sie trugen keine Schuld an diesem Tod. Der eine streckte ihm die Hände entgegen, in jeder lag ein kleiner Berg Hostien.
    »Sie waren in seinen Hosentaschen«, erklärte er mit zitternden Händen. Andrea zögerte, nahm die Hostien und wusste nicht, was er damit machen sollte.
    »Gebt sie mir, ich tue sie in den Tabernakel«, erbot sich der Werkmeister zartfühlend.
    Andrea erkannte, wie passend dieser Vorschlag war, also schob er das Häuflein in die Mitte des Tabernakels und schloss die kleine Tür. Er hatte Hunger, dachte er. Dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke: Es werden seine Kumpane gewesen sein, damit sie die Beute nicht teilen mussten.
    Doch etwas an dieser Erklärung stimmte nicht. Als er sich umdrehte, fühlte er die Augen des Grüppchens auf sich gerichtet. Es schien, als erwarteten sie angesichts der Umstände eine Ansprache, vielleicht eine Predigt. Auch Bepo Rosso sah ihn an, die Mütze in der Hand, die Augen feucht. Obwohl er das Reden im Gericht gewohnt war, vor Männern, die über das Leben der Angeklagten entschieden, zögerte Andrea, denn er fand keinen Anhaltspunkt, um der Tragik des Geschehens zu begegnen: vom Tod des Kindes zu den vielen anderen Toten und dem Verhängnis, das über diese Welt gekommen war. Dann sah er einige, die ihre Mütze aufbehalten hatten, Arsenalotti wie Patrizier. Und das gab den Anstoß zum Sprechen.
    »Entblößen wir unser Haupt«, sagte er, unwillkürlich das wir benutzend, um die Verantwortung zu teilen und sich nicht zum Richter aufzuwerfen. »Für diesen Toten und alle anderen.« Die meisten folgten eilig seiner Aufforderung, andere waren langsamer, doch nur, weil sie sich überrascht gewahr wurden, dass sie noch ihre Kopfbedeckung trugen. »Was heute Nacht geschehen ist«, sagte er mit Nachdruck, aber ohne zu übertreiben, »könnte ein entsetzlicher Alptraum sein, wenn ich nicht hier wäre, um inmitten all dieser Ruinen zu euch zu sprechen. Eine solche Zerstörung hat die Stadt noch nie gesehen, weder durch Feuer noch durch Wasser oder Stürme und nicht einmal durch ein Erdbeben. Dieser Tag wird, da bin ich sicher, in den Annalen zukünftiger Zeiten erinnert werden.«
    Er hielt einen Augenblick inne, weil hinter dem Rücken der Männer, in dem Lagunenabschnitt zwischen der Kirche San Francesco und der Insel San Cristoforo, eine schnelle Galeere mit den Insignien von San Marco und einer Menge Menschen auf dem Deck nahte. Es war

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