Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
beugte sich über Sofia, achtete aber darauf, sie nicht mit der Laterne zu blenden. Dankbar bemerkte Andrea diese Umsicht. Er hatte auch seine sprachliche Fertigkeit bemerkt, die ungewöhnlich für einen Vallesano war. Behutsam schob der Mann die Decke beiseite. Sofia schlief mit leicht geöffneten Lippen. Sie war blass, immer noch schön.
»Was hat sie?«, fragte er.
Andrea betrachtete ihn und sah sein bleiches Gesicht, den dunklen, struppigen Bart.
»Ich habe sie aus dem Kloster San Servolo geholt. Dort hat man sie schlecht behandelt.«
Wieder folgte Stille.
»Seid Ihr einer von diesen schweinischen Kerlen, die sich an unglücklichen, armen Mädchen vergehen?«, fragte der Fischer drohend.
»Was redet Ihr da?«, protestierte Andrea heftig.
»Schick ihn weg, wir wollen keine Schwierigkeiten!«, sagte jemand anders.
Der Mann mit der rauen Stimme legte eine Hand an Sofias Stirn. »Sie hat Fieber«, sagte er. Als er sich aufrichtete, schlingerte das Boot etwas. Er leuchtete Andrea ins Gesicht. Nur einen Augenblick lang. »Gib mir das Seil!«, befahl er schroff.
Im Osten erschien das kalte Weiß eines unbeweglichen Morgengrauens, und das Wasser der Lagune spiegelte einen Himmel, an dem der letzte Stern gleich vom Licht verschluckt werden würde. Andrea kniete neben Sofia auf dem Deck der Mascaréta.Ein langes Tau verband ihren Bug mit dem Heck eines Sandolos, es spannte und lockerte sich im Rhythmus der Ruderschläge. Die Boote fuhren langsam durch einen Kanal zwischen den Schilfwäldern. Von Zeit zu Zeit öffnete sich rechts und links ein kleiner, gewundener Wasserweg, der sich im dichten Röhricht zu verlieren schien.
Der Fischer am Ruder des Bootes, das die Mascaréta zog, war allein. Stehend bediente er zwei Ruder mit gleichbleibenden Bewegungen im regelmäßigen Takt gegen die Strömung, die ins Meer zurückfloss. Denn wie jedes Lebewesen hat die Lagune ihren Atem. Die anderen Boote folgten in einer Reihe. Trotz des Ankers hatte der Sturm in der Nacht die Mascaréta nach Südwesten gedrückt, in Richtung Chioggia, über den Sumpf von Fodello hinaus, etwa zehn Meilen von Lizza Fusina entfernt.
Die beiden Hütten tauchten urplötzlich auf, fünfzig Schritt, vielleicht weniger entfernt. Sie waren aus Schilfrohr gebaut und darum im Röhricht fast unsichtbar. Nur ihre Unbeweglichkeit unterschied sie vom wogenden Schilf. Dann zeichneten sich die steil abfallenden Dächer ab, die Wände und die dunklen Rechtecke der Türen. Man hörte Kinder laufen, roch Feuer, den Duft von Essen. Die Frauen versammelten sich am Rand der Erhebung, auf der die Hütten standen. Dorthin führte ein schmaler Wasserweg, wo die Boote die Ruder einzogen und sich mit Hilfe von Stangen vorwärtsbewegten, die gegen den Grund gedrückt wurden. Andrea beobachtete das alles und fühlte sich erleichtert. Jemand ergriff vorsichtig sein Handgelenk. Sofia sah ihn an.
»Sofia.« Er beugte sich schützend über sie.
»Der Himmel«, flüsterte sie, als wunderte sie sich darüber.
Andrea streichelte ihr Gesicht, es glühte.
»Wir sind auf der Terraferma.«
Sie sah ihn aufmerksam an, dann lächelte sie.
116
Wenn man genau hinsah, wurden die Zweige der Pappeln um den kleinen Kirchplatz von San Giacomo auf der Giudecca langsam dichter. Sie hatten nämlich jene holzigen, noch gut geschützten Auswüchse angesetzt, wie die wachsenden Hörner eines Zickleins, die sich binnen eines Monats in Knospen und neue Blätter verwandeln würden. Ein Dutzend Fanti der Zehn wärmten sich in der bleichen Sonne, stampften mit den Füßen und rieben sich die Hände zwischen den Fischständen rings um die Pappeln. Mitunter warfen sie einen Blick auf die Nonnen, die hinter den Fenstern im Westen auftauchten, doch die weißen Skapuliere zuckten sofort zurück, wenn sie diese Blicke sahen, entfernten sich, um dann wieder zurückzukehren.
Die Schreie des Priors Gabriele Dardano Veneziano schallten trotz geschlossener Fenster bis auf den Platz. Ein Hauptmann der Fanti hatte sich am Eingang des Klosters postiert und sprach mit dem Sekretär Formento, um von ihm zu erfahren, welche Regeln bei der Durchsuchung befolgt werden mussten. Seine Hauptsorge galt dem möglichen Sakrileg, denn polizeiliche Aktionen in einem Kloster hatte er noch nie durchgeführt.
Die Schreie des Priors verstummten, und augenblicklich stellten sich die Fanti paarweise in einer Reihe auf. Das Törchen öffnete sich, Jacopo Zon erschien, der Provveditore über die Klöster, gefolgt von seinem
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