Die Feuer von Murano: Ein Venedig-Roman (German Edition)
Weingärten und Eichen durch das Tal. Dann überwand sie eine erste Anhöhe mit einer zweifachen S-Kurve und führte hinter einer mit Weinstöcken bepflanzten Ebene in den Kastanienwald am Berg, wo sie für Ochsen und Karren zu eng und steil wurde. Balduino hielt an. Eine Viertelmeile Luftlinie entfernt schien das Kloster der Hohen Einsiedelei über den kahlen Gipfeln zu schweben. Man sah die Mauern, das Gästehaus, die Fassade der Kirche und den Glockenturm. Darüber spannte sich der Himmel. Andrea und Sofia verabschiedeten sich und gingen zu Fuß weiter. Hinter sich hörten sie das Knallen von Balduinos Peitsche, das Knirschen der Steine unter den eisenbeschlagenen Rädern und den schweren Aufschlag der Hufe des Ochsen.
Die Luft im Kastanienwald schien leichter zu sein, frisch wie Quellwasser. Hinter einem Erdrutsch wurde der Weg zum Pfad. Andrea bot Sofia die Hand, um ihr über den lehmigen Spalt des abgerutschten Weges hinwegzuhelfen. Als das Hindernis überwunden war, erwartete er, dass sie seine Hand losließ. Aber das geschah nicht. Wahrscheinlich fürchtete sie, auszurutschen, dachte er. Gerne hätte er sich zu ihr umgedreht, doch er hatte Angst, den Zauber zu brechen. Schließlich lockerte er seinen Griff, überzeugt, sich von ihrer Hand lösen zu müssen. Doch Sofia hielt die seine nur noch fester, und er verstand. Er beschloss, sie anzuschauen. Wie schön sie war in diesen Lichtflecken zwischen den kahlen Bäumen, trotz all dem, was sie durchgemacht hatte. Er lächelte sie an, sie erwiderte sein Lächeln. So hielten sie einander an der Hand und vergaßen die Vergangenheit für eine Weile.
Sie verließen den Pfad, wo eine Gruppe Zypressen den letzten Abschnitt des Wegs markierte, der jetzt steil anstieg. Nur fünfzig Schritte fehlten bis zur Einsiedelei. Um die Mauern herum hatten die Mönche die Bäume gerodet, damit sie möglichen Angreifern keinen Unterschlupf boten und das Kloster nicht bedroht war, wenn Feuer im Wald ausbrach. Auf den gerodeten Boden hatten sie einen Kranz aus Weinstöcken gepflanzt. Hinter den Mauern tauchten die zwanzig kleinen Häuser der Eremiten auf, durch Gärten voneinander getrennt und alle von gleicher Größe und Bauweise, wie die Zelte eines Heerlagers. Sofia spürte, wie ihr die Rührung in die Kehle stieg. Dank dieser flüchtigen, gestohlenen Freiheit würde sie ihren Sohn umarmen können. Sie würde die Flucht mit ihm fortsetzen und vielleicht mit Andrea.
Der Waldweg wurde zum Stein, und der graue Stein jeder einzelnen dieser breiten Stufen brachte Sofia ihrem Sohn näher.Dort war der Eingang, zehn Schritte entfernt. Sie kamen zum Portikus, Sofia stellte sich vor die Statue des heiligen Benedikt, schlug ein Kreuzzeichen und küsste die Füße des Heiligen.
»Seid Ihr bereit?«, fragte Andrea.
Sofia nickte. Andrea zog an der Kette der Klingel. Einmal, zweimal. Ein Glöckchen läutete entfernt. Sie hörten das Scharren des Riegels, das Knarren des Türflügels. Der Pförtnermönch erschien in seiner lichtweißen Kutte.
»Guten Tag, Padre«, sagte Andrea, sich verneigend. »Ich heiße Andrea Loredan und möchte Euren ehrwürdigen Abt sprechen.«
Der Blick des Mönchs ruhte eine Weile auf Andrea, dann wanderten seine Augen zu Sofia.
»Ihr müsst warten«, sagte er unwirsch. »Aber wisset, dass Frauen keinen Zutritt zur Einsiedelei haben.«
»Wir werden der Regel gehorchen.«
Der Mönch zögerte noch, als wollte er etwas erwidern, dann schloss er die Tür.
Entmutigt kauerte Sofia sich auf einen Stein. Andrea ging zu ihr. »Er wird uns empfangen.« Sie nahm seine Hand und drückte sie.
Sie mussten nicht lange warten, bis das Türchen sich erneut öffnete. Ein Mönch mit einem weißen Bart und offenen Zügen erschien. Er hatte große Hände mit kräftigen Fingern, die das Arbeiten gewohnt waren.
»Mit unendlicher Freude heiße ich Euch willkommen, meine Kinder«, sagte er so natürlich, als empfange er langerwartete Gäste. Andrea verbeugte sich, Sofia kniete nieder. Der Abt strich ihr über den Kopf. »Kommt mit mir.«
Hinter der Klostermauer öffnete sich ein kleiner Innenhof, dort führte eine Treppe zur Kirche hinauf. Ihre Fassade war schlicht, aus hellem Stein und Verputz. Der Abt ging Andrea und Sofia voran. Kein Wort fiel. Nur Schritte waren zu hören.
In dieser strengen, mit weißem Sonnenlicht erfüllten Kirche fühlte Sofia deutlich Gabrieles Anwesenheit. Der Abt, der ihreErregung gewahrte, wies auf den Hochaltar, wo eine kleine Gestalt auf einem Gerüst
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